1, 2, 3, …, 30, bald gebe ich das Zählen auf – zu viele belagern meinen Fotorucksack. Tausende schweben in der Luft, einige verirren sich in die Sonnenblende, andere in die Nasenlöcher oder Ohren. Immerhin handelt es sich bei der Mehrheit der Mücken um Zuckmücken, welche zum Glück nicht stechen. Die schiere Masse an Mücken (bzw. deren Larven) bildet die Nahrungsgrundlage für ein ganzes Ökosystem und ist verantwortlich für den Namen des nahegelegen Sees. Dieser heisst, wenig überraschend, “Mückensee” (Myvatn). Auch die stattliche Forelle, welche vor mir im reissenden Fluss vorbeischwimmt, gedeiht dank dem reichlich vorhandenen Futter und kann daher in diesem Fluss besonders gross werden. Auch wenn sie wahlweise ein interessantes Motiv wäre oder ein feines Znacht geben würde, gehört sie nicht zu einer meiner Zielarten. Etwas weiter weg tauchen auf einmal zwei Enten in der Strömung auf. Mit hohem Tempo lassen sie sich wie ein Wildwasserboot den Fluss hinunter treiben. Viel zu schnell schwimmen die Kragenenten an mir vorbei und verschwinden alsbald hinter der nächsten Kurve aus meinem Blickfeld – dies wäre jetzt eigentlich eine meiner Zielarten gewesen…
Immerhin taucht wenig später ein weiteres Paar auf. Dieses macht inmitten des reissenden Flusses Jagd auf die vorbeitreibenden Mückenlarven und muss dabei sichtlich gegen die Strömung kämpfen!
Die Kragenente ist eine der drei Vogelarten, welche innerhalb Europas nur auf Island brüten (~ 3’000-5’000 Brutpaare); ansonsten in Nordamerika, Grönland und Ostsibirien. Dabei ist sie auf stark strömende Flüsse angewiesen. Ein Fluss mit einer bedeutenden Population in Island wäre in den 70er Jahren beinahe einem Wasserkraftwerk zum Opfer gefallen. Der erfolgreiche Widerstand gegen das Projekt endete in der Unterschutzstellung des Flusses, sodass dieser auch heute noch voller Dynamik und Lebensraum zahlreicher Entenarten ist. Mitunter wird die Strömung aber auch zum Problem für die Vögel, da sie in turbulentem Wasser gegen Felsen/Steine prallen und sich Knochen brechen können. Daher weist gemäss dem Cornell Lab of Ornithology die Mehrheit der adulten Kragenenten (verheilte) Knochenbrüche auf – ganz schön wild, die Enten und ihr Lebensraum!
Dank der Strömung möchte ich auch eine seit langem geplante Bildidee umsetzen: Eine Langzeitbelichtung von einem ruhenden Vogel auf einem Stein im Fluss. Was in der Theorie simpel klingt, ist in der Praxis gar nicht so leicht umzusetzen. Schon seit Jahren habe ich mich daran versucht, z.B. mit Graureihern und Wasseramseln. Bislang war der Erfolg äusserst bescheiden: Erstens war die Strömung oft zu gering, zweitens wollten die Vögel selten lange genug still posieren. Der erste kritische Punkt wäre nun erfüllt, die Bedingungen wären ideal mit dem reissenden Fluss. Wenn nicht hier, wann und wo sonst sollte mir eine solche Aufnahme gelingen? Dennoch dauert es knapp zwei Tage, bis sich ein Paar auf einen Stein im Fluss setzt und nicht in die (Ufer-)Böschung – endlich! Aufgeregt nähere ich mich ihnen etwas, um eilig das Stativ passend einzustellen. Nach einem kurzen Check der Belichtung gibt es kein Halten mehr: Während ich dem Verschluss der Kamera lausche, hoffe ich, dass bei irgendeiner Aufnahme aus der Serie sich weder die Enten noch das Objektiv (durch Erschütterungen und Wind) bewegt haben. Nach ca. zwanzig Aufnahmen stürzt sich das Paar wieder in die Fluten, und ich stelle mit Freude fest, dass immerhin eine Aufnahme einigermassen scharf geworden ist…
Die ausgefallene Färbung des Federkleids des Männchens spiegelt sich auch im lateinischen Namen Histrionicus histrionicus wieder, wobei histro Schauspieler bedeutet. Etwas spezifischer sind der französiche (arlequin plongeur) und englische (harlequin duck) Artname, welche auf die, mit etwas Fantasie erkennbare, Ähnlichkeit mit dem Kostüms des Harlekins hinweisen.
Von Nahem betrachtet schillern die Federn in faszinierenden Blau- und Rottönen.
Mit der Spatelente brütet eine weitere Entenart innerhalb Europas nur auf Island (rund um Myvatn pflanzen sich rund 800-900 Brutpaare fort). Anders als die Kragenente ist sie weniger auf reissende Flüsse angewiesen als auf Höhlen zum Brüten. Zumindest Baumhöhlen sind im spärlich bewaldeten Island eine Ausnahmeerscheinung: Der “Wald” besteht aus ein paar dünnen und geschätzt maximal sieben Meter hohen Birken. Daher brüten die Spatelenten heutzutage in Nestboxen, welche ihnen auf den Bauernhöfen zur Verfügung gestellt werden.
Nach zwei Tagen im Reich der Kragenenten ist es Zeit, sich an ruhigere Gewässer zu begeben. Während des Nachmittags erkunde ich die Gegend und entdecke einen zum Fotografieren geeigneten kleinen See. In der Nacht lege ich mich an dessen Ufer hin und warte ab, ob sich ein Motiv auf Foto Distanz nähert. Richtig dunkel wird es trotz Wolken nicht mehr, der Tag dauert über 20 Stunden. Bereits um ein Uhr in der Früh drückt Licht durch ein Wolkenloch. Über dem Seelein bilden sich kurzzeitig kleine Nebelschwaden, während im Hintergrund die Rufe der Singschwäne und Eisenten für eine beeindruckende Geräuschkulisse sorgen – was für eine Stimmung! Die Vorfreude auf den bevorstehenden Sonnenaufgang steigt, langsam ist es auch wieder genug hell, um Vögel zu fotografieren. Gerade rechtzeitig schwimmt in etwas Entfernung ein Eisentenmännchen durch den See vor mir. Nun bin ich erleichtert, dass ich mich dazu überwunden habe, trotz dicker Wolkendecke nicht für ein paar Stunden schlafen zugehen.
Etwas später am Morgen und mit mehr Licht werden mehr Details des Gefieders ersichtlich. Charakteristisch für die Männchen der Eisenten sind ihre langen Schwanzfedern. Auch wenn der deutsche Namen fast schon nahelegen würde, dass die Art (innerhalb Europas) v.a. auf Island brütet, ist dies nicht der Fall: Eisenten brüten u.a. auch in Norwegen, Schweden und Finnland.
Die abertausenden von Mücken und deren Larven locken noch etliche weitere Vogelarten an. Eine meiner Favoriten davon ist das Odinshühnchen: Die kleinen Limikolen sind permanent in Bewegung, kennen aber kaum Scheu vor dem Menschen. Interessanterweise sind die Geschlechterrollen bei der Brut im Vergleich zu den meisten anderen Vogelarten vertauscht: Die Weibchen kämpfen um die Männchen und beteiligen sich nicht weiter an der Brutfürsorge, nachdem sie die Eier gelegt haben. Stattdessen suchen sie sich meistens einen neuen Partner, um ein weiteres Gelege zu produzieren.
Sind sie zu Beginn eher die “Lückenfüller” gewesen, während ich auf die Enten gewartet habe, so avancieren sie für mich zum heimlichen Star der Rundtour. Ihre Vertrautheit ermöglicht auch Aufnahmen mit dem Weitwinkelobjektiv inkl. Grauverlaufsfilter. Während ich ruhig am Seeufer liege, nähern sie sich mir bis auf einen Meter oder weniger.
Mit ihrem dünnem Schnabel, der geringen Körpergrösse (17-19 cm) und dem feinen Hals sind sie eine zierliche Erscheinung. Kaum vorstellbar, dass sie ohne zu rasten bis zum Überwinterungsgebiet im Persischen Golf fliegen können!
Am Ende eines Rundgangs werde ich von einem Kreischen überrascht. Wütend stürzt sich eine Küstenseeschwalbe auf mich. Dabei laufe ich doch nur der Strasse entlang… Küstenseeschwalben verteidigen ihre Gelege oft sehr heftig: Selbst wenn ich die Strasse nicht verlassen habe, scheine ich ihr Hoheitsgebiet verletzt zu haben und sie wollen den Eindringling vertreiben. Ich frage mich, wie oft hier wohl ein Fussgänger der Strasse entlang läuft (die zahlreich vorbeifahrenden Autos kümmern sie nicht)? Allerdings haben ihre Angriffe nicht ganz die von ihnen gewünschte Wirkung, ganz im Gegenteil: Sie verleiten mich dazu, kurz anzuhalten. Während wenigen Minuten versuche ich noch einige Weitwinkelaufnahmen der Küstenseeschwalben im Flug anzufertigen: Dank des Grauverlaufsfilters wirken die Wolken auch dramatisch. Danach ziehe ich eilig weiter und verlasse ihre Kampfzone 😉. Weitere Küstenseeschwalben Fotos von anderen Kolonien auf Island werden in weiteren Blog-Beiträgen zu sehen sein.
Nach einer Woche im Norden Islands habe ich mich auf das Sichten mehrere Tausend Fotos des Trips gefreut (und auf eine richtige Küche, Dusche und das Bett zuhause). Die dritte Vogelart, welche innerhalb Europas nur auf Island brütet, werde ich euch in einem späteren Blog noch separat vorstellen.
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