Während es zügig dämmert, kämpfen sich meine Schwester Seraina und ich in Falllinie den Berg hoch. Bei jedem Schritt brennen die Beine. Trotz Temperaturen unter dem Gefrierpunkt rinnt der Schweiss über die Stirn – und das im Pullover. Doch den Wettlauf gegen die aufgehende Sonne möchten wir auf keinen Fall verlieren. So laufen wir so schnell die Beine uns samt Fotoausrüstung hochtragen können, mit rasendem Puls höher und höher. Zum Glück genossen wir am Abend eine gute Portion Pasta, ansonsten wären wir wohl zu langsam unterwegs (vom Berglauftraining einmal abgesehen). Ausser Atem – aber gerade rechtzeitig – erreichen wir einen kleinen Hügel. Schnell macht sich Ernüchterung breit: Anstatt Steinböcke können wir nur deren Hinterlassenschaften finden. Das darf doch nicht wahr sein! Bereits der dritte Tag, an dem sich meine Wunschmotive bei Sonnenaufgang rar machen. Und das, obwohl wir sie in der Abenddämmerung mit dem Feldstecher von weiter unten hier gesehen haben…
Langsam laufen wir weiter. Auf einmal erblicke ich hinter einem Geröllfeld einen pelzigen Rücken. Das Horn verrät den Steinbock. Schnell packe ich die Kamera aus und schleiche mich leise an. In einer Senke knie ich im Geröll nieder und richte die Kamera mit zittrigen Händen nach vorne. Diese Gelegenheit darf ich mir nicht entgehen lassen! Langsam steigt die Sonne über den Horizont und mein Herz schlägt ganz nervös. Der Steinbock läuft einige Schritte in unsere Richtung. Auf einmal ertönt ein Pfiff. Er hat uns entdeckt, und ich fürchte schon, dass alles vorbei sei. Wie eingefroren bleibe ich sitzen, getraue mich kaum den Auslöser der Kamera zu betätigen. Allerdings scheint der Steinbock auch etwas neugierig zu sein: Anstatt wegzurennen läuft er nur etwas hoch und mustert uns merkwürdig. Dies ist meine Chance und ich drücke auf den Auslöser.
Haben wir in den ersten Tagen unserer einwöchigen Wandertour in den Bergen mit dem Motto “Bock auf Steinbock” nicht das erhoffte Glück auf der Suche nach den Böcken gehabt, so scheint uns dieses heute hold zu sein. Während der Steinbock uns immer noch anschaut und von Zeit zu Zeit einen “Warnpfiff” von sich gibt, tauchen hinter der Geländekante noch weitere Hörner auf. Ob dies Gian und Giachen sind?
Wir trauen unseren Augen kaum, als noch ein Steinbock auftaucht. Nach und nach kommen weitere Böcke an die Geländekante. So kommt es anders als erwartet, und es steht nach einigen Minuten statt keinem Steinbock eine kleine Gruppe von fünf Böcken vor uns!
Überglücklich beobachten und fotografieren wir die Steinböcke. Langsam ziehen sie sich in Richtung Felsen zurück. Im steilen Gelände sind sie in ihrem Element und wir können ihnen nur etwas neidisch hinterher schauen.
Huftritt für Huftritt erklimmen sie die Felswand. Dank der guten Fussarbeit gewinnen sie spielend leicht an Höhe.
Wir machen uns nun durch die Geröllfelder wieder auf den Rückweg. Dabei machen wir noch einen Umweg auf einen Gipfel. Dank des Anschauungsunterichts bei den Steinböcken kurz davor, meistern wir auch den Grat erfolgreich. Steinbock-Level 1 von 10 wäre geschafft! Nur gut, hören bzw. sehen wir die Steinböcke nicht mehr. Gian und Giachen hätten uns bestimmt ausgelacht, so langsam wie wir vorangekommen sind. “Lueg wie si kämpfe müen” schiesst es mir durch den Kopf. “Kämpfe, kämpfe chum” läuft der Werbespot aus Graubünden in meinem Kopf weiter. Karbon statt Kondition?!: Nicht ganz, denn im Gegensatz zu den Wettkampf-Laufschuhen haben die Bergschuhe keine Karbonplatte. Und ausser den Stativbeinen ist alles aus Metall und schwerem Glas. Auf ein Leichtgewichtsobjektiv warte ich noch!
Mehr als zufrieden machen wir uns wieder auf den Weg ins Tal, nachdem wir die Aussicht auf die umliegenden Berge und Täler genossen haben: Eine gelungene Wanderung und endlich Steinbockbilder am selben Morgen! In den Tagen davor haben wir bereits etliche – ebenfalls schöne – Wanderungen unternommen, aber nie Böcke bei gutem Fotolicht gesehen. Während wir erfolglos nach Steinwild Ausschau gehalten hatten, entdeckten wir ein paar charakteristische und weniger charakteristische Hochgebirgsbewohner. Gut getarnt sitzt der Schneehase regungslos in seinem Versteck neben dem Stein. Kein Wunder, habe ich bislang erst knapp eine Handvoll Schneehasenbeobachtungen machen können! Die Tarnung ist wirklich perfekt.
Später entdecken wir im Verlaufe des Morgens noch ein zweites Individuum.
Während einer kurzen Pause fliegt auf einmal ein kleiner Vogel neben uns vorbei und landet auf dem bereits zugefrorenen Tümpel. Sofort springt mein Puls nach oben, denn es handelt sich um einen Wassertreter, also einen Irrgast aus dem hohen Norden. Zum Glück haben wir die Kamera noch nicht eingepackt! Schnell haben wir ein paar Belegbilder aufgenommen, denn bei der Bestimmung der Art sind wir uns noch nicht sicher. Wir legen uns hin und hoffen auf Fotos aus einer besseren Perspektive. Auch wenn die Vögel aus dem hohen Norden den Ruf haben, fast zahm zu sein, so möchte dieses Individuum nicht richtig nahe kommen.
Nach wenigen Minuten fliegt der Wassertreter wieder ab, kein Wunder, gibt es auf dem zugefrorenen Tümpel doch nicht allzu viel zu fressen! So verlieren wir den seltenen Gast ähnlich schnell wieder aus den Augen, wie er aufgetaucht ist. Wir finden heraus, dass es sich um ein Thorshühnchen handelt, dessen Brutgebiete in der Arktis liegen (mit wenigen Ausnahmen auf Island). In den letzten 30 Jahren gab es in der Schweiz durchschnittlich einen Nachweis pro Jahr. Definitiv eine unerwartete und v.a. sehr seltene Begegnung bei der Suche nach den Steinböcken! Das Ornithologenherz freut sich dementsprechend, während das Fotografenherz nach wie vor etwas den Steinböcken (oder anderen Motiven) im schönen Licht nachtrauert. Vielleicht finden wir das Thorshühnchen ja noch im Abendlicht? Dann würde das Ornithologen- und Fotografenherz gleichzeitig höher schlagen. Unsere Nachsuche bleibt bis zum nächsten Morgen erfolglos. Ausser einer scheuen Bekassine finden wir nicht mehr viel.
Schon eher erwartet haben wir die Schneehühner. Wie der Schneehase sind auch sie sehr gut getarnt. Zwischen den Steinen im Geröll sind sie kaum zu entdecken, ihr Gefieder ist dermassen der Umgebung angepasst. Zum Glück rufen die Hähne jedoch von Zeit zu Zeit, sodass wir sie akustisch orten können. Praktisch täglich vernehmen wir auf unserer Tour das typische Knarren.
Sie befinden sich im Oktober in der Mauser, im Übergang zum Winterkleid: Das grau-braune Sommergefieder wird schrittweise durch ein rein weisses ersetzt.
Die Mauser wird hauptsächlich durch die sich verändernde Tageslänge ausgelöst und zusätzlich durch die Temperatur beeinflusst. Im Timing gibt es erhebliche individuelle Unterschiede: Während einige bereits fast weiss gekleidet sind, sind andere noch mehrheitlich im grau-braunen Sommergefieder.
Dabei handelt es sich jedoch um keinen Schönheitswettbewerb, und das Schneehuhn mit dem reinsten (oder schönsten) Gefieder gewinnt, sondern um einen Überlebenskampf mit den am besten getarnten Individuen im Vorteil. Je nach Wetter- bzw. Schneelage, sind die weissen oder die braunen besser getarnt. Der Mismatch mit der Umgebung kann fatale folgen haben: Die Individuen mit dem schlechten Timing (in Zeiten des Klimawandels jene mit einem frühen Wechsel ins Wintergefieder) sind anstatt gut getarnt auffällig gefärbt und landen schnell in den Fängen des Steinadlers oder von anderen Frassfeinden.
Längst nicht jeden Tag finden wir jedoch “kooperative” Schneehühner oder andere tierische Motive. An solchen Tagen frage ich mich durchaus, weshalb ich das grosse Teleobjektiv für alle Touren mitschleppen wollte. Die Schultern würden sich definitiv über einen leichteren Rucksack freuen. Der Ärger über eine verpasste Gelegenheit, wenn ich ohne Teleobjektiv losgezogen wäre, wäre allerdings so gross, dass der befürchtete Verlust schwerer wiegt als das zusätzliche Gewicht auf den Schultern. Deshalb stellt sich auch jeden Tag aufs Neue die Frage, ob wir lieber einen Aussichtspunkt für spektakuläre Aussichten und Stimmungsbilder anvisieren sollten oder doch lieber Tiere suchen und allenfalls mit leeren Speicherkarten zurückkehren sollten?
Nachdem wir abends keine Steinböcke nahe gesehen haben, und auch sonst wenig Wildtiere anwesend zu sein scheinen, entschliessen wir uns am nächsten Morgen alles auf die Karte stimmungsvoller Sonnenaufgang und Landschaftsfotos zu setzen. Im Halbdunkeln laufen wir durch das Geröll immer höher hinauf. Über Nacht ist leider eine dicke Wolkendecke aufgezogen und droht unseren Plan zu vereiteln. In Richtung des Sonnenaufgangs gibt es noch eine letzte kleine Lücke. Ob diese bis zum Sonnenaufgang Bestand hat? Sollten wir doch lieber weiter unten nach Tieren suchen? Wir balancieren über die Steinplatten auf den letzten Metern zum Gipfel und richten uns ein. Nun beginnt das grosse Bibbern. Mit dem Feldstecher suchen wir nach Wildtieren und stellen fest, dass wir von oben zumindest keine entdecken können. Unterdessen ziehen die Wolken immer mehr zu, dennoch findet die Sonne eine kleine Lücke und sorgt für spezielle Lichtstimmungen. Für einmal, so scheint es, haben wir uns richtig entschieden.
Beim Abstieg vernehmen wir wieder das typische Knarren der Schneehühner. Kurz darauf entdecken wir eine ganze Gruppe, welche vor uns durch das Geröll läuft. Mit etwas Geduld zeigen sie sich durchaus kooperativ und erlauben uns Beobachtungen aus der Nähe. Mittlerweile bin ich dankbar für die Wolken, da sie das ansonsten harte Licht dämpfen. In der Gruppe sticht ein bereits fast weisses Individuum hervor und weckt meinen Ehrgeiz, schliesslich sehen die rein weissen Vögel schon speziell aus! Nur scheint es auch das scheuste Individuum zu sein. Ob es wohl ahnt, dass es alles andere als gut getarnt ist? So versteckt es sich andauernd zwischen den Steinen und ich habe keine Chance, es zu fotografieren. Dafür kräht der Hahn noch einmal, während gerade eine der Hennen vor ihm durchläuft.
Nun ist es Zeit für uns, uns wieder auf den Weg in die Zivilisation aufzumachen und unser Zelt zusammenräumen. Nach einer Woche Zelt auf- und abbauen während der Bergtour haben wir darin auch Übung und sind ein eingespieltes Team. Mehrfach hatten wir einen “privaten” Pool direkt neben dem Zelt. Wobei man es mit der Nähe zum See am besten nicht übertreiben sollte, da ansonsten der Boden im Vorzelt feucht wird… Ein paar Stunden zuvor haben wir noch die Aussicht vom Berg in der Bildmitte genossen.
Einen See-Anstoss fanden wir zwar nicht immer, aber für mehr als 5 Sterne und eine einigermassen flache Stelle hat es jede Nacht gereicht 😉 Nur eine Schuhtrocknungsanlage gab es nicht, sodass die Schuhe nicht mehr trocknen konnten und diese morgens jeweils schön frisch waren.
Die unzähligen Schritte und Stunden draussen an der frischen Luft sorgten für grossen Appetit. Dementsprechend viel Proviant schleppten wir jeweils mit, um die kulinarischen Bedürfnisse zu decken. Stocki mit Trockenfleisch in den Bergen schmeckt vorzüglich und ist erst noch schnell zubereitet.
Da ich meine, den Rückweg zu kennen, ignoriere ich den Wegweiser und beschere uns kurz vor Schluss noch einen nicht gewollten Umweg. So müssen wir zum Abschluss nochmals beschleunigen, damit es uns auf das anvisierte Postauto reicht. Bei der nächsten Wanderung werde ich definitiv nicht einfach blindlings am Wegweiser vorbeilaufen… Mit schweren Beinen und etwas schmerzenden Schultern erreichen wir gerade noch rechtzeitig die Postauto-Haltestelle. Eine Woche mit vielen unvergesslichen Erlebnissen neigt sich dem Ende zu und die Postautofahrt bietet gerade Gelegenheit, das Erlebte nochmals Revue passieren zu lassen.
Es war eine echte Herausforderung, mehr als 60km und 4’000 Höhenmeter mit der Fotoausrüstung in 6 Tagen zurückzulegen! Als Trailrun hätte ich 2-3 Tagesetappen an einem Tag absolviert, aber mit diesem Gepäck fühlte es sich bereits jetzt wie ein Trainingslager an. Dabei ist es aufgrund des Gewichts nicht nur anstrengender forwärtszukommen, sondern aufgrund des Rucksacks auch schwieriger, die Balance zu halten.
4 Comments
Grossartige Bilder, herzliche Gratulation – und weiterhin “gut Schuss”!
Vielen Dank!
Ein toller Blogbeitrag mit wunderschönen Bildern! Es hat sich definitiv gelohnt, das grosse Tele mitzuschleppen 😉
Einfach grandios, diese Aufnahmen, Flurin! Ich lese deinen Blog immer mit Freude und staune über die eindrücklichen Aufnahmen! Dir auch einen guten Rutsch in ein erfreuliches 2023! Liebe Grüsse, Sara.