Mit einem lauten Knall geht es endlich los. Zuvor war die Nervosität spürbar gewesen, und viele Fragen kreisten im Kopf umher: Wie läuft das Startprozedere ab? Werden wir den Weg finden? Zügig lassen wir die letzten Häuser von Vestmannaeyjar hinter uns. Schon bald ist das Kreischen der Dreizehnmöwen zu vernehmen, und der Puls steigt spürbar an. Auch wenn ich gerade entlang einer Vogelkolonie laufe, habe ich für einmal nur bedingt Augen für deren Bewohner, denn das Ziel ist es, möglichst schnell die Vulkaninsel zu umrunden. Nachdem in Island alle Laufwettkämpfe bis Anfang Mai aufgrund Covid-19 abgesagt wurden, fand am 09. Mai wieder der erste Wettkampf statt. Dieser hatte erst noch einen vielversprechenden Namen: “Puffin run” (Puffin ist der englische Name des Papageitauchers). Da konnte ich natürlich nicht widerstehen. Ich malte mir schon aus, wie ich meine beiden Leidenschaften kombinieren und nach dem Lauf Papageitaucher fotografieren könnte. Mit einigen anderen AustauschstudentInnen machte ich mich von Reykjavík aus auf den Weg Richtung Westman Islands. Schon die Fährfahrt war ein Erlebnis und glich eher einer Whale Watching Tour. Zwergwale und mehrere Weissschnauzen-Delfine sorgen für Begeisterung unter uns, während Papageitaucher, Skuas und Basstölpel das Stelldichein abrunden. Der Lauf am nächsten Tag wird zum Highlight durch wunderschöne Lavalandschaften und Küstenabschnitte. Allerdings fordert der Weg volle Konzentration, sodass ich keine Papageitaucher sehe. Zu Beginn der letzten drei Kilometer bin ich im Fahrplan, den ich mir vorgenommen habe – trotz eines Mini-Umwegs (einmal bin ich scheinbar dem falschen Pfad gefolgt, welcher vor den Klippen endete). Jetzt folgt definitiv technisch anspruchsvolles Gelände: Die von mir anvisierte Laufzeit gerät ausser Reichweite, auch wenn ich den viertplatzierten Läufer noch einholen und distanzieren kann. Ein paar Stunden später geht es wieder zurück mit der Fähre. Am Abend möchte ich bei einer anderen Papageitaucher-Kolonie vorbeischauen und habe dabei vor dem geistigen Auge schon meine Wunschfotos angefertigt. Während der Anfahrt färbt sich der Himmel leicht und die Wolken machen die Stimmung perfekt. Nun kann ich es kaum erwarten, die Papageitaucher und die anderen Bewohner des Vogelfelsens zu sehen! Als das GPS noch wenige Kilometer bis zum Ziel anzeigt, stehe ich auf einmal vor einem Schlagbaum. Damit es keinen Interpretationsspielraum bei der Übersetzung gibt, liefert das Schild gleich die englische Übersetzung und macht mit Zeichen unmissverständlich klar: Passieren verboten! Nur Google (Maps) scheint davon noch keine Kenntnisse zu haben…
Somit ist der Traum vom Foto der Papageitaucher nach dem Puffin run bereits geplatzt… Die Suche nach alternativen Motiven kurz vor Sonnenuntergang beginnt – mit mässigem Erfolg. Auch wenn sich die Wolken leicht verfärben und die Stimmung ein Genuss ist, bin ich mit den Fotos bis zum Eindunkeln nicht wirklich zufrieden.
Für den Sonnenaufgang spekuliere ich wieder auf ein paar Wolken und wechsle den Standort. Bereits um vier Uhr morgens reisst mich der Wecker aus dem Reich der Träume. Nach nur wenigen Stunden Schlaf und dem Lauf vom Vortag in den Beinen braucht es doch etwas Überwindung, um aus dem warmen Schlafsack zu kriechen. Wenige Minuten später verfärben sich die Wolken zartrosa und ich weiss, weshalb ich früh aufgestanden bin!
Die Wolken werden immer dichter und sorgen bei der Weiterfahrt für dramatische Stimmungen. Der Süden von Island ist geprägt vom Gegensatz der Berge des Hochlands in der Ferne und den weiten (Schwemm-) Ebenen vor der Küste.
Mit den müden Beinen vom Vortag bin ich für einmal nicht unglücklich, dass sich auch in unmittelbarer Nähe der Strasse schon Motive finden lassen. Langsam schmelzen die Schneemassen in den Bergen und geben etwas von der spärlichen Vegetation frei, in Kombination mit den unterschiedlich gefärbten Gesteinen einmal mehr ein faszinierender Anblick. Sehnsüchtig schweift mein Blick in Richtung Hochland – noch sind die “Strassen” in das Landesinnere gesperrt.
Wenig Wind, eine faszinierende Schwemmebene und weiterhin schwere Beine: Da drängt sich ein Einsatz der eigens für meinen Islandaufenthalt erstandenen Drohne auf, um mir einen Überblick über die Ebene zu verschaffen. So lasse ich die Kamera die Höhenmeter für einmal – ganz bequem – selbst machen und sehe dadurch die Landschaft aus der Vogelperspektive.
Der Farben- und Formenreichtum des frei mäandrierenden Flusses ziehen mich in den Bann. Fast werde ich etwas neidisch auf die Brutvögel in der Ebene, welche tagtäglich diesen Anblick geniessen können.
Der Süden Islands ist nicht nur für die Schwemmebenen bekannt, sondern auch für die zahlreichen und spektakulären Wasserfälle an deren Rand. Die Steilwände werden durch Eissturmvögel belebt, die in exponierter Lage brüten. So darf ich mich an diesem Wochenende doch noch an einem meiner Wunschmotive in Island versuchen: fliegende Eissturmvögel vor den herunterstürzenden Wassermassen. Die Eissturmvögel sind meistens auf dem offenen Meer anzutreffen. Ohne ein geschickter Taucher zu sein, bleibt ihnen dabei wahrscheinlich nicht viel Anderes übrig, als opportunistisch verschiedenste Nahrungsquellen zu nutzen. So ernähren sie sich von Krill, über Mollusken und Fisch(-resten) bis zu Walkadavern. Schon im Winter kehren die Eissturmvögel an die Küste Islands zurück, um ihre Brutplätze in den Felswänden und Steilhängen zu besetzen – dadurch sind sie im Vorteil gegenüber den anderen Bewohnern der Vogelfelsen, welche später eintreffen. Einige Paare brüten mehrere Kilometer entfernt von der Küste im Landesinneren, so wie die hier gezeigten Individuen.
Eissturmvögel sind elegante Flieger, das Landen im steilen Gelände scheint für sie aber eine echte Herausforderung zu sein. Deshalb müssen sie – ganz zu meiner Freude – wiederholt mehrfach zur Landung ansetzen. Dies erhöht meine Chancen auf ein paar scharfe Fotos.
Vor den herunterstürzenden Wassermassen hat der Autofokus Mühe, die Eissturmvögel zu finden. Vielleicht habe ich zuvor zu viel Landschaften und zu wenig Vögel fotografiert, sodass die Kamera vorsorglich schon auf die Landschaftselemente fokussiert und meine eigentlichen Motive als Photobomber einstuft? 😉 Auch wenn der Wasserfall eine stattliche Grösse aufweist, dauert es nur wenige Sekunden oder Sekundenbruchteile, bis die Eissturmvögel den spannenden Hintergrund passiert haben. Dies fordert Kamera und Fotograf gleichermassen heraus.
Ich habe auf jeden Fall schon seit längerem nicht mehr so viele Flugaufnahmen gemacht. Aus “vogelfotografischer” Sicht haben die Eissturmvögel das geplante “Papageitaucher-Wochenende” gerettet. Und ich bin zuversichtlich, euch später (spätestens im August) noch die ersehnten Papageitaucher Aufnahmen präsentieren zu können.
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