Schritt für Schritt kämpfe ich mich langsam hoch durch den frisch verschneiten Wald. Trotz Schneeschuhen sinke ich bei jedem Schritt im Tiefschnee ein. Während mehreren Stunden suche ich nun schon nach einem Motiv. Meine Energiereserven neigen sich bereits langsam dem Ende zu, als ich zum zweiten Mal an diesem Wintertag die Waldgrenze erreiche. Endlich! Mit dem Feldstecher entdecke ich einen kapitalen Steinbock. Allerdings befindet er sich nochmals mehr als 100 Höhenmeter über mir in einem Steilhang. Soll ich versuchen, via Umweg zu ihm hoch zu gelangen? Die Beine sind eigentlich schon müde, doch nach zwei Tagen mit leeren Speicherkarten, möchte ich es nicht unversucht lassen. Das Vorwärtskommen ausserhalb des Waldes ist nochmals kräftezehrender. Alle paar Schritte muss ich anhalten, um etwas Sauerstoff in die Beine zu bekommen und die Muskulatur zu lockern. Da ich bei jedem Schritt bis zu den Knien einsinke und jeweils wieder einen halben Schritt zurück rutsche, dauert es eine gefühlte Ewigkeit, bis ich mich in Richtung Steinbock vorgearbeitet habe. Zudem kann ich ihn hinter der Geländekante nicht sehen und so steigt meine Nervosität an, ob er sich noch immer an der Stelle befindet. Hoffentlich waren die Strapazen nicht umsonst und der Steinbock ist in der Zwischenzeit nicht nochmals 100 Höhenmeter weiter nach oben gelaufen oder in für mich unzugängliche Felsen geklettert. Die anstrengende Wanderung lässt mich erahnen, wie herausfordernd die Zeit für die Wildtiere ist. Umso wichtiger ist es, diese nicht zu stören und beispielsweise Wildruhezonen zu respektieren. Vorsichtig laufe ich auf die Kante zu und blicke darüber. Glück gehabt – im Tiefschnee steht er etwas unter mir und gräbt mit den Hufen im Schnee. So verschafft er sich den Zugang zu einem leckeren Preiselbeerstrauch.
Lange bleibt mir allerdings nicht Zeit zum Durchatmen, denn schon bald setzt sich der Steinbock in Bewegung. Aufgrund des steilen Geländes bzw. der Rutschgefahr kann ich nur entlang der Geländekante laufen und spekulieren, wo ich ihn vielleicht nochmals zu Gesicht bekommen könnte. Meine Anspannung steigt mit jeder Sekunde, die verstreicht, ohne dass ich den Bock erblicken kann. Von Bildern im frischen Schnee habe ich jahrelange geträumt und nun bin ich so nahe dran an meinen Wunschbildern! Auf einmal erscheinen die Hörner hinter dem Schnee. Mit den noch immer schneebedeckten Hörnern blickt er mich an. Ich kann mein Glück kaum fassen. Vor Aufregung und Müdigkeit zittern meine Knie, während ich versuche einigermassen eine gute Perspektive und einen stabilen Stand im Schnee über dem Steilhang zu finden. Kein Wunder, schwankt es bedenklich beim Blick durch den Sucher. In meinen Gedanken höre ich die Stimme des Kommentators der Biathlonrennen: “Uh nun beginnt er sich zu verkrampfen, mit so viel Bewegung im Oberkörper wird das nichts. Da winkt die Strafrunde.” Würde ich nun tatsächlich diese Gelegenheit vermasseln, so wäre ich mir wie ein Biathlet vorgekommen, welcher den letzten Schuss des letzten Schiessens daneben setzt und so das Podest verpasst. Zum Glück habe ich jedoch mehr als 5 “Schuss” zur Verfügung und ein einziges Foto würde genügen, bei dem der Ausschnitt und die Schärfe passen. Dank des Serienbildmodus mit 20 Bildern pro Sekunde hoffe ich, dass ich trotz zittrigen Beinen immerhin diesen einen Treffer landen kann…
Zu meiner Freude läuft der Steinbock noch weiter auf mich zu. Ich versuche, mich noch etwas nach hinten zu verschieben, ansonsten wäre er bald zu nahe für mein Teleobjektiv. Mit den Schneeschuhen ist Rückwärtsgehen allerdings eine Herausforderung, zumindest wenn man so aufgeregt ist wie ich.
Wie ein Schneepflug kämpft sich der Bock durch den Tiefschnee. Er scheint dabei allerdings einiges routinierter zu sein als ich, aber anstrengend wird es auch für den König der Alpen sein, schliesslich versinkt er stellenweise bis zum Bauch im Schnee. Meine Bewunderung für die Steinböcke und deren Widerstandsfähigkeit steigt mit gefühlt jeder Tour, die ich unternehme. Wie können diese Tiere bloss unter solchen Bedingungen überleben? Mit nichts ausser ein paar Blättern, welche erst noch unter dem Schnee begraben sind? Dementsprechend wichtig ist es auch, die Tiere – besonders im Winter – nicht zu stören und beispielsweise bei Schneeschuh- und Skitouren die Wildruhezonen zu respektieren bzw. nur auf den erlaubten Routen zu durchqueren (mehr Infos findet ihr unter respektiere-deine-grenzen.ch). Denn der Energieverbrauch im Tiefschnee ist bei jedem Schritt um ein Vielfaches höher als im Sommer. So habe ich an diesem Wochenende in zwei Tagen auf der Suche nach den Steinböcken 4’500 kcal zusätzlich verbrannt (entspricht ca. acht Tafeln Schokolade). Dementsprechend eine grosse Portion Älplermaccaroni habe ich mir gekocht und beim Abendessen an den Steinbock hoch oben in den Bergen bei viel Schnee und wenig Fressen gedacht. Wirklich faszinierend, was die Tiere alles aushalten bzw. leisten können!
Zusätzlich zum Schnee stellt der Winter die Wildtiere mit tiefen Temperaturen vor Herausforderungen. Dank jahrtausend langer Adaptation ist das Steinwild mit seinem dicken Winterfell mit der wärmenden Unterwolle jedoch sehr gut gegen die beissende Kälte gerüstet. Erst bei Temperaturen unter -35°C wird es ihnen kalt. Zum Energiesparen senken sie einerseits die Herzfrequenz in der kalten Jahreszeit generell und reduzieren andererseits die Körpertemperatur in der Nacht leicht. So sind sie für ein Leben in den Alpen unter garstigen Bedingungen angepasst und können so auch ohne Älplermaccaroni zum Abendessen den Stürmen im Winter über der Waldgrenze trotzen 🙂.
Einen starken Schneesturm durfte ich einige Wochen früher in diesem Winter bei den Steinböcken erleben. Der Wind bläst den frischen Schnee mit 80-100km/h über die Felsen und deckt die Steinböcke mit Triebschnee ein. Erfasst einen eine Böe, so ist es schon nur eine Herausforderung, das Gleichgewicht zu halten.
Nur für wenige Sekunden können ein Kollege und ich jeweils aus dem Schutz des Felsens hervorkommen und fotografieren, bevor die Sicht durch den Sucher wieder trüb ist: Schnee sammelt sich auf der Frontlinse an, da der Wind den Schnee mit hoher Geschwindigkeit über die Felsen hinunter ins Tal bläst. Das Microfasertuch zur Reinigung der Linse ist schon nach ein paar Versuchen ganz nass und verschlimmbessert alles nur noch. Immerhin finde ich ein paar Ersatzsocken im Rucksack, welche ich als Trocknungstuch für die nächsten Runden verwenden kann.
Die Steinböcke suchen wie wir ebenfalls den Schutz der Felsen auf und warten den Schneesturm stoisch ab. Was für ein Erlebnis!
Sobald der Wind etwas nachlässt und die Sonne die Felsen erwärmt, schmilzt der Schnee auf dem Fell der Steinböcke rasch wieder weg, und die Tiere werden aktiver.
Gegen Ende des Winters zieht es die meisten Steinböcke in tiefere Lagen. An den süd-exponierten Hängen schmilzt der Schnee aufgrund der Sonneneinstrahlung und warmen Temperaturen schnell weg und schon bald sind die ersten Grasspitzen zu entdecken. Ob die bescheidene Mahlzeit nach diversen Wochen des “Fastens” wie ein Festmahl schmeckt?
Auf jeden Fall verbringt der Steinbock mehrere Stunden praktisch an Ort und Stelle und ermöglicht mir dadurch neben spannenden Beobachtungen auch einige Portrait-Aufnahmen.
Bis es wirklich Frühling bzw. Sommer wird, werden die ersten frischen Gräser jedoch immer wieder unter einer Schneeschicht verschwinden.
Bald werden die Steinböcke mit dem Anstieg der Schneegrenze immer weiter nach oben ziehen. Dieser Bock hat sich aber zu meiner Freude noch in der Nähe der Zivilisation aufgehalten, und ich konnte nach vielen ergebnislosen Versuchen eine weitere Bildidee umsetzen.
In den letzten Wintern widmete ich etliche Touren den Steinböcken, um ihr Leben bei den herausfordernden Bedingungen zu dokumentieren. Dabei durfte ich viele unvergessliche Momente in den Bergen erleben, doch nur bei wenigen Touren konnte ich mehr Fotos machen, als ich Kalorien verbrannt habe.
Von Tour zu Tour steigt meine Faszination für die Steinböcke und andere Tiere in den Alpen an. Deren Widerstandsfähigkeit beeindruckt mich enorm. Ich beneide sie um ihre Leistungs- und Widerstandsfähigkeit, trotz der äusserst spärlichen Nahrung.
6 Comments
Wirklich sehr schöne Eindrücke dieses imposanten Tieres des Hochgebirges.Ich persönlich als Flachländer kenne den starken Steinbock nur aus dem Zoo. Gratuliere zu den gelungenen Aufnahmen!
Danke Steffen!
Wiederum ein sehr schöner Blogbeitrag Flurin! Ich kann dir sehr gut nachfühlen, war ich doch diesen Winter auch ein paar Mal auf den Spuren der Steinböcke (und Gämsen) unterwegs. Ich teile deine Faszination für diese Überlebenskünstler!
Herzliche Gratulation auch nochmals zur Prämierung bei den GdT. Die Bilder, wo die Steinböcke Schutz vor dem Sturm in den Felsen suchen, finde ich ebenfalls besonders gelungen!
Vielen Dank Mel! Es ist wirklich faszinierend, unter welchen Bedingungen die Steinböcke überleben können.
Ein eindrücklicher Naturbericht! Nur, ich fühle die Kälte beim Lesen wie wenn ich dabei gewesen wäre. Das zeichnet ja die Reportage aus. Das Erlebnis vor Ort in Tuchfühlung mit den Bergkletter-Spezialisten ist natürlich nochmals eine ganz andere Dimension.
Weiter so! Ich gratuliere!
Thomas
Vielen Dank Thomas!