Auf einmal steht er da. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses ragt er empor. Mit den charakteristischen gelben Flechten und stellenweise weiss bedeckt vom Vogelkot, sieht er eins zu eins so aus, wie ich ihn seit der Kindheit aus den Vogel- und Naturbüchern kenne. Mein Interesse gilt nicht dem Kot bzw. Gestein selbst, sondern den Vögeln, welche den Felsen ihr Zuhause nennen. Seit ich in den Büchern von der Extremadura gelesen und vor allem die (Geier-) Bilder gesehen habe, habe ich davon geträumt, diesen Ort einmal zu besuchen. Und nun habe ich es nach über 1700 km mit dem Velo endlich geschafft. Ich bin an der ersten Location meiner mehrwöchigen Velotour angekommen und kann es kaum erwarten, das schwere Gepäck (aka z.B. Fotoausrüstung) endlich einzusetzen!
Nach der Verteidigung der Dissertation ging der Stress erst richtig los, musste ich doch meine Sachen in Zürich packen und mein Bikepacking-Projekt “Velomad” vorbereiten, was doch noch einiges an Zeit in Anspruch genommen hat. Kleider und (Foto-) Ausrüstung für mehrere Monate zu packen ist eine Herausforderung, insbesondere, wenn alles mit dem Velo transportiert werden sollte…
Anstatt gemütliche Tage vor dem Start hatte ich somit alle Hände voll zu tun. Spät abends hatte ich alles verstaut, das Gepäck wiegt deutlich über 30 kg. Nach einer (zu) kurzen Nacht klingelte der Wecker um 4 Uhr morgens und noch etwas verschlafen stieg ich auf mein ARC8 Eero, um im Nebel das Projekt “Velomad” in Angriff zu nehmen. Vielen Dank an der Stelle an ARC8 and Goldwurst-Power für den Support des Projekts (mehr zum Gravelbike folgt später)!
Das mehrmonatige Projekt wollte ich mit einer Challenge starten, solange die Beine noch einigermassen frisch und die Umgebung bzw. das Essen halbwegs vertraut sind. Und da mein erstes Ziel die EXTREMadura ist, habe ich mir zum Ziel gesetzt, möglichst schnell nach Spanien zu fahren. Schaffe ich es in nur vier Tagen ins spanische Baskenland zu fahren mit dem Gepäck (>30 kg)? Die ersten drei Tage sass ich jeweils beinahe 13 Stunden (Fahrzeit) auf dem Rad, sodass ich täglich über 300 km zurücklegen konnte, einmal mit stolzen 3700 Höhenmetern – und das mit der ganzen Ausrüstung. Meinem ambitionierten Ziel bin ich damit schon sehr nahe gekommen. Doch die sehr kurzen Nächte im Schlafsack irgendwo mehr oder weniger direkt an der Strasse haben ordentlich ihren Tribut gefordert. Am vierten Tag passiere ich bereits mittags nach 110 km die Grenze zu Spanien, Ziel erreicht. Ich schaffe es nochmals knapp 100 km weiter, um mir endlich eine Hotelübernachtung zu gönnen – und die lang ersehnte Dusche. Noch selten habe ich mich so auf eine Dusche gefreut – nach 1156 km mit dem Velo wahrscheinlich auch keine Überraschung… Mit der Challenge wollte ich meine Grenzen herausfinden und habe diese auch aufgezeigt bekommen. Die Erholung in kurzen Nächten beim Biwakieren neben der Strasse reicht mir auf die Dauer nicht aus. Zudem hatte meine Achillessehne gar keine Freude und hat sich so stark entzündet, dass ich zwei Tage nicht mehr weiterfahren konnte (und der Fuss richtig dick angeschwollen ist).
Nach zwei ungeplanten, frustrierenden Ruhetagen in Arrasate wollte ich unbedingt weiterfahren. Mit Irfen und einer dicken Schicht Salbe konnte ich meine Fahrt in Richtung Extremadura und zu den Geiern fortsetzen. Die Ironie der Geschichte ist, dass dies möglicherweise nur dank Voltaren möglich war, welches Diclofenac enthält. Dieser Wirkstoff ist leider in gewissen Gegenden wie Indien auch in der Viehzucht eingesetzt worden, worauf die Geierbestände dramatisch zusammengebrochen sind, da Diclofenac sich in den Geiern akkumuliert und zu Nierenversagen führt. Unterdessen ist Diclofenac in der Viehzucht in Indien nicht mehr zugelassen. Also sollte ich nicht so schnell zu Geierfutter werden, es wäre auch noch etwas früh 😉 Und nun zurück in die Extremadura zum Geierfelsen und den Geiern.
Die für die Extremadura typischen, halboffenen Weidelandschaften (Dehesas) reichen soweit das (Geier-) Auge sehen kann. Die Eichen werden für die Korkproduktion verwendet, während die zahlreichen Nutztiere auf den Weiden der Fleischproduktion dienen. Stirbt ein Tier zuvor, ist es ein gefundenes Fressen für die Geier, welche innert kürzester Zeit den Kadaver beseitigen.
Dazu nutzen die Geier die Thermik, um möglichst energiesparend an Höhe zu gewinnen und anschliessend im Segelflug die Gegend nach möglichen Kadavern abzusuchen. Ohne Thermik ist nur äusserst selten ein Geier in der Luft, zu kräftezehrend ist das aktive Fliegen im Vergleich zum gemütlichen Dahingleiten in der Thermik.
Dabei kennen sie im Flug kaum Scheu und fliegen immer wieder nahe an mir vorbei. Der gefüllte Kropf verrät, dass dieser Gänsegeier wohl eine üppige Mahlzeit genossen hat.
Auf einmal taucht ein Geier mit einem Gegenstand im Schnabel auf. Schnell nehme ich ihn ins Visier. Erst im Nachhinein erkenne ich, dass der Geier eine Feder im Schnabel gehalten hat. Weshalb er dies tut, ist mir rätselhaft. Die Jungen sind schon längst ausgeflogen und bis zur nächsten Paarungszeit dauert es noch ein paar Monate.
Da die für die Geier notwendige Thermik meist nur bei starker Sonneneinstrahlung entsteht, sind die Geier zu meinem Leidwesen meist nur bei äusserst hartem Licht aktiv – gerade das Gegenteil davon, was ich für meine Fotos bestellen würde. Deshalb bin ich umso erfreuter gewesen, als bei meiner Ankunft nachmittags eine Wolkenschicht die Sonne verdeckt hat und sich dennoch einige Geier auf Augenhöhe in den Felsen niederlassen. Für einmal steht der Geier sogar Modell, und ich kann mich so platzieren, dass ich die gegenüberliegende Felswand im Hintergrund habe. Nur das mit dem freundlichen Blick (oder Action bieten) könnte er noch etwas üben.
Der Kopf und Halsbereich des Gänsegeiers ist mit sehr kurzen Federn beschmückt, sodass beim Fressen möglichst wenig Schmutz beziehungsweise Insekten etc. daran haften bleiben.
Nach diesem fulminanten Start bereits am ersten Nachmittag habe ich mich sehr auf den kommenden Tag gefreut. Allerdings läuft es am nächsten Tag ganz und gar nicht so, wie ich mir das erhoffe. Das Warten auf die Geier wird zur Geduldsprobe. Stundenlang lässt sich zu meiner grossen Ernüchterung kein Geier auf Fotodistanz blicken. Da frage ich mich, weshalb ich 1700 km mit dem Velo gefahren bin, wenn ich schlussendlich Buchfinken – notabene die häufigste Brutvogelart in der Schweiz – fotografiere.
Auch wenn ich mir geringe Chancen ausrechne, harre ich bis abends vor Ort aus. Während sich die Geier weiterhin rar machen, laden ein paar Felsenschwalben immerhin zum Spielen mit der Kamera ein.
Am nächsten Tag zeigen sich wieder ein paar Geier.
Es ist immer wieder beeindruckend, wie die Geier entlang der Felsen fliegen. Manchmal sind die Federn im Kopfbereich noch rot mit Blutresten, die letzte Mahlzeit liegt also nicht lange zurück.
Mit bis zu 10 kg zählen die Gänsegeier zu den schwereren Vögeln in Europa. Keine Überraschung also, dass sie sich viel lieber von der Thermik empor tragen lassen, als selbst mit den Flügeln zu schlagen. So einen “Lift” hätte ich mir bei so manchen Anstiegen mit dem ganzen Gepäck auf dem Velo auch gewünscht. Trotz der Masse ist ihr Abstoss bzw. Absprung erstaunlich schwungvoll.
Da ich noch lange nicht alle Bildideen umsetzen konnte, entscheide ich mich dazu, nochmals einen Tag länger bei den Geiern zu bleiben und meine Weiterfahrt in den Süden nach hinten zu verschieben.
Vor einer solchen Kulisse würde ich liebend gerne einen Geier im Flug ablichten. Aufgrund der fehlenden Thermik und daher inaktiver Geier um diese Uhrzeit ist mir dies bislang vergönnt geblieben. Auf einmal entdecke ich in weiter Entfernung einen Geier am Horizont, der einsam seine Runden dreht.
Danach lässt sich für viel zu lange kein Geier mehr in der Nähe blicken – und ich muss weiter auf meine Traumbilder warten. Dafür bleibt mir Zeit, die Landschaft zu fotografieren. Aus der Vogelperspektive wird die Weite der Landschaft ersichtlich. Stundenlang bin ich mit dem Velo durch eben diese Weidelandschaft gefahren.
Gegen Mittag frischt der Wind auf, und die Thermik scheint unterdessen immer besser zu sein. Geier um Geier erhebt sich aus seiner Nische im Felsen und segelt davon.
Zu meiner grossen Freude lässt sich sogar ein Mönchsgeier blicken. Mönchsgeier sind in Spanien, welches den grössten Bestand in Europa beherbergt, rund 10 Mal seltener als die Gänsegeier.
Der Wind wird immer stürmischer, was die Geier aber nicht im geringsten stört. Ganz im Gegenteil scheinen sie mit dem Wind zu spielen, veranstalten eine richtige Flugshow und geniessen die Bedingungen. Nur für mich zum Fotografieren ist es nicht ganz einfach, wenn ich schon darum kämpfen muss, gerade zu stehen…
Unterdessen ist der Akku meiner Kamera praktisch leer und die Speicherkarte voll – zum Glück habe ich mich dazu entschieden, noch einen Tag länger zu bleiben. Die Geier haben ein Spektakel geboten, wie ich sie noch selten erleben durfte. Jetzt heisst es für mich, Abschied von den Geiern und der Extremadura zu nehmen, weiter Richtung Süden zu pedalieren – voller Neugierde auf mir unbekannte Gegenden.
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