Kurz bevor der Bergwinter dem Steinwild und den anderen alpinen Bewohner viel abverlangen wird, präsentiert sich die Natur im Herbst von ihrer schönsten Seite. Während die Berggipfel bereits mit dem ersten Schnee überzuckert sind, leuchten die Blätter der Beerensträucher und die verdorrten Gräser in verschiedenen Orange- und Rottönen mit der Herbstsonne um die Wette. Dementsprechend gross ist jedes Jahr meine Vorfreude auf die Bergtouren im Herbst. Je näher die geplanten Touren kommen, desto grösser wird auch die Anspannung: Werden wir das Steinwild rechtzeitig finden? Werden sie sich in Bereichen aufhalten, die sich zum Fotografieren eignen? Wird sich nicht im entscheidenden Moment eine Wolke vor die Sonne schieben und so zum Spielverderber? Mit jedem Schritt im Aufstieg wird nicht nur das Panorama besser, sondern steigt auch der Puls an – einerseits vor Anstrengung, andererseits vor Nervosität… Mit Argusaugen wird jede verdächtige Bewegung oder Form entlang der Felsen gemustert. Dabei musste ich feststellen, dass es unzählige Steine gibt, welche mit etwas Fantasie aus der Ferne täuschend ähnlich aussehen wie die Steinböcke…
Allerdings scheint uns gleich bei der ersten Tour das Glück hold zu sein, schon nach kurzer Zeit erspähen wir mehr als nur Wanderer und Steine: Eine Gruppe Steingeissen mit Jungen läuft entlang der Krete. Zu unserer Freude befinden sie sich auch noch etwa am gleichen Ort, als wir mit dem ganzen Gepäck auf dem Rücken auf der Krete ankommen. Nun heisst es geduldig warten, bis sich die Sonne dem Horizont nähert und das Licht golden wird.
Unsere Euphorie weicht leichter Ernüchterung, als sie sich ca. eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang in den Schattenhang verabschieden – just, als das Licht langsam aber sicher vielversprechend geworden wäre! Wieder einmal wurde uns der Speck durch den Mund gezogen… So bleibt uns nicht viel anderes übrig, als die schöne Stimmung zu geniessen und zu hoffen, dass doch noch einmal ein Motiv vor uns auftaucht.
Weit nach Sonnenuntergang scheint eine Steingeiss Erbarmen mit uns zu haben und nähert sich uns. Während sie uns neugierig mustert, versuche ich eiligst, möglichst viele leicht unterschiedliche Aufnahmen anzufertigen. Innert weniger Sekunden entstehen doch noch Dutzende Fotos – so schnell kann es gehen und mein (Fotografen-)Tag ist gerettet! Ausnahmsweise bin ich mehr als glücklich über den Nebel, der sich im Tal bereits gebildet hat. Wie oft habe ich diesen Herbst während einem der unzähligen trüben Tage mit einer zähen Nebeldecke über dem Kopf bereits an das Steinwild mit der mehr als privilegierten Aussicht über das Nebelmeer gedacht?
Nicht immer ist einem das Glück jedoch hold, und die Motive spielen im letzten Moment doch noch mit: Manchmal verpokert man sich und setzt (sich) sprichwörtlich auf die falsche Krete. So warte ich an einem anderen Abend vergeblich auf Wildtiere, nur um festzustellen, dass im schönsten Licht eine Gruppe Steingeissen über die andere Krete schreitet. Dumm nur, dass ich diese selbst ohne Gepäck und mit leichten Trailrunning-Schuhen erst nach Sonnenuntergang erreichen könnte. So steigt mein Ärger über meine Fehlplanung mit jeder zusätzlichen Steingeiss an, welche über den Grat stolziert. Immerhin bleibt mehr als genug Zeit, um mit dem Teleobjektiv einige Stimmungsfotos anzufertigen. Die Stimmung unter diesen Umständen richtig zu geniessen gelingt mir dann – um ehrlich zu sein – nicht immer, befinden sich die Wunschmotive doch weit entfernt am Horizont.
Im Herbst kehrt auf den Alpen allmählich wieder Ruhe ein, nachdem das Vieh wieder ins Tal gezogen ist, und sich die Wildtiere auf die entbehrungsreiche Zeit im Winter vorbereiten. Über den kurzen Bergsommer, in dem frisches Gras und unzählige proteinreiche Bergkräuter wachsen, versucht das Wild möglichst viele Fettreserven anzulegen. Mit dem ersten Schnee auf den Bergkuppen wechselt es nun im Herbst in das dickere und besser isolierende Winterfell. Dadurch sehen die Steinkitze vor ihrem ersten Winter schon beinahe pummelig aus: Sie sind im ersten Sommer weniger darauf aus, schnell in die Höhe zu wachsen, als möglichst viel Reserven für den ersten Winter anzulegen.
Ich beneide das Steinwild jedoch nicht nur um ihr dickes Fell und die Aussicht über das Nebelmeer, sondern v.a. auch um seine Trittsicherheit und Geschwindigkeit, mit der es sich auch im steilsten Gelände bewegt. Spielend leicht sieht es aus, wenn sich die jungen Steinböcke in die Felsen wagen und dabei ihre Hufe präzise auf noch so kleine Absätze bzw. Unebenheiten setzen. Da erblassen selbst die weltbesten Trailrunner!
Die Bindung zwischen dem Jungtier und der Mutter ist im Herbst noch eng. Verlieren sie sich aus den Augen, geht das Meckern meist bald los, bis sie wieder vereint unterwegs sind. Vor lauter Freude am Spiel mit den anderen Jungen entfernen sich die Kitze gelegentlich etwas von den Geissen. Und so tauchen die Jungen längst nicht immer an der exakt gleichen Stelle auf wie ihre Mütter. Aus fotografischer Sicht hätte eine etwas strengere Erziehung durchaus Vorteile, dadurch wäre es etwas einfacher vorherzusehen, wo ich mich mit der Kamera platzieren sollte 😉.
Ausser während des Fressens und Wiederkäuens sind die Kitze oft in Bewegung. Umso erfreuter bin ich, als sie sich kurz auf einem Felsen präsentieren. Beinahe wäre der Eindruck entstanden, sie würden sich für die Fotosession extra inszenieren – immerhin einmal in vier Tagen kann ich mehr als ein paar wenige Fotos der Kleinen in Serie machen, bevor sie wieder entschwinden.
Bei den herbstlichen Touren ist der Puls dieses Jahr zum Glück nicht nur beim Hochlaufen und vor Vorfreude angestiegen, sondern mehrmals auch vor Aufregung und Begeisterung beim Blick durch den Sucher. Somit konnte ich während mehreren Ausflügen im Herbst – nach lauter erfolglosen Bergtouren im vorigen Jahr – endlich wieder einmal Steinwild fotografieren.
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