Der Schweiss tropft nur so, das T-Shirt ist bereits total durchnässt. So langsam aber sicher drückt auch der schwere Rucksack auf die Schultern und Hüften. Und das, obwohl ich erst 800 Höhenmeter – und somit noch nicht einmal die Hälfte – zurückgelegt habe. Fotoausrüstung, Essen, Trinken, Kleider und Biwak kommen zusammen auf ein stattliches Gewicht. Immerhin kann ich nun den ersten Blick auf das Ziel werfen, welches nochmals mehr als 1’000 Höhenmeter weiter oben liegt. Wäre die Ausrüstung doch nur leichter! Zum Optimieren des Gewichts habe ich bereits auf das Zelt verzichtet und nur den leichten Sommerschlafsack dabei. Dennoch drückt der Rucksack unerträglich auf Schultern und Hüfte. Ich frage mich, weshalb ich nicht bloss mit dem Smartphone fotografiere? So bleibt mir nichts anderes übrig, als möglichst schnell zu laufen, damit ich bald oben bin und die schwere Last vorübergehend deponieren kann. Mit zunehmender Höhe büsse ich allerdings etwas für meinen Effort. Der letzte Abschnitt wird zu einem Kraftakt. Bei jeder Steilstufe brennen die Oberschenkel. Ziemlich abgekämpft erreiche ich den höchsten Punkt. Überraschenderweise bin ich nicht alleine, sondern treffe auf einige Steinböcke. Sie scheinen ebenfalls von meiner Anwesenheit überrascht zu sein.
Vermutlich haben sie schnell realisiert, dass ich zu ausgelaugt bin, um eine Gefahr für sie darzustellen. Beim Anblick der ruhenden Steinböcke wird mir schnell klar, was auch ich als nächstes mache: Chillen. In Gesellschaft mit den Steinböcken und mit einer umwerfenden Aussicht lässt es sich vorzüglich entspannen und essen. So gut, dass das zum Fotografieren erforderliche Energielevel bald wieder erreicht ist. Meinem Wunschfoto von einem Steinbock mit einem Gletscher im Hintergrund komme ich etwas näher. Doch aufgrund des Klimawandels ist der Gletscher zu einem kümmerlichen Resten geschmolzen und beinahe nicht mehr ersichtlich…
Den kräftezehrenden Aufstieg habe ich jedoch nicht primär der Steinböcke wegen auf mich genommen, sondern um rastende Zugvögel zu fotografieren. So verlasse ich nach einiger Zeit die Steinböcke – auch wenn sie wirklich beeindruckende Tiere sind – und mache mich auf die Suche nach gefiederten Motiven. Beim Schultern des Rucksacks frage ich mich allerdings schon, ob ich nicht einfach mit den Steinböcken weiter chillen sollte? Kurz darauf scheint auf einmal ein Stein durch das Gras zu fliegen. Bin ich nun schon dermassen am Ende meiner Kräfte angelangt? Plötzlich bewegen sich immer mehr davon. Ich habe tatsächlich bereits eine Gruppe Mornellregenpfeifer gefunden! Den Rucksack kann ich also getrost wieder absetzen und mich mit der Kamera auf den Boden legen. Dank ihrer Gefiederfarbe und -musterung sind die Regenpfeifer perfekt getarnt in der tundraartigen Vegetation.
Nun sorgen die Glücksgefühle aufgrund der Begeisterung erneut für einen ansteigenden Puls. Nach langer Zeit kann ich endlich wieder einmal Mornellregenpfeifer beobachten und dazu noch in einer bereits herbstlich verfärbten Umgebung fotografieren. Bald einmal kommt ein Mornell immer näher. Zu meiner Freude ist es erst noch jenes Individuum, das noch halbwegs im Prachtkleid ist.
Die Mornell-Gruppe wählte einen Bergrücken hoch über der Baumgrenze für einen Zwischenstopp auf ihrem Weg in den Süden aus. Mornellregenpfeifer brüten in der Tundra und überwintern in Nordafrika. Zwischen 10’000 und 50’000 Individuen brüten in Nordeuropa, wovon ein kleiner Teil in der Schweiz einen Zwischenstopp einlegt. Dabei rasten sie bevorzugt in tundra-ähnlichen Gebieten, welche ihren Brutgebieten gleichen. Ich kann ihre Habitatpräferenzen gut nachvollziehen, üben diese baumfreien Landschaften auch auf mich einen besonderen Reiz aus. Selbst wenn ich nicht gerade klein gewachsen bin, geniesse ich den Ausblick über die Landschaft, ohne dauernd einen Baum vor den Augen zu haben.
Immer wieder hüllen Wolken den Berg ein und sorgen für gedämpftes Licht. Mir kommt dies gerade gelegen, da ich so die Mornells in unterschiedlichen Lichtstimmungen fotografieren kann.
Ich bewundere die Mornellregenpfeifer für ihre Leistungen auf dem Vogelzug und beneide sie ein wenig darum. Was muss das für ein Leben sein, den Sommer im hohen Norden in der Tundra zu verbringen, dann den ganzen Kontinent zu überqueren und anschliessend den Winter im Norden Afrikas zu verbringen! Ein wenig wünschte ich, ich könnte mit ihnen diese aufregende Reise unternehmen… Anstatt hunderte Kilometer am Tag reicht es zu Fuss mit der Fotoausrüstung für ein paar wenige Kilometer. Aber immerhin für die tundra-ähnliche Landschaft reicht es auch in der Schweiz. Dafür verdecken mir nicht bereits alpine Gräser die Aussicht 😉.
Die Steinböcke haben sich in der Zwischenzeit bereits in den Steilhang zum Fressen zurückgezogen. So bleiben meine Hoffnungen auf ein Foto der Böcke im Abendlicht leider unerfüllt.
Mit erstaunlicher Geschwindigkeit wirbeln die Regenpfeifer mit ihren Beinen über die kleine Ebene. Nach einer richtig erholsamen Pause sieht der Zwischenstopp nicht aus, allerdings lässt es sich im Stillstand nur schlecht Insekten jagen. Mit einer längeren Belichtungszeit möchte ich ihre Dynamik in Bildern festhalten. Dies ist jedoch schwieriger als gedacht, da sie andauernd die Richtung und die Geschwindigkeit ändern.
Sobald die Mornell ein Insekt gefunden haben, stoppen sie abrupt und schnappen sich den Imbiss. Während die Mornells Intervall-Training betreiben, konnten unterdessen meine Schultern (und Beine) entspannen. Nun bin ich doch ziemlich froh, dass ich die schwere Ausrüstung hochgeschleppt habe, da viele der angefertigten Aufnahmen mit dem Smartphone schwierig zu realisieren wären.
Auch wenn ich sehr müde bin, kann ich in der Nacht im Schlafsack kaum schlafen und die Nacht dauert eine gefühlte Ewigkeit. Dafür höre ich noch im Dunkeln die Mornells rufend über mich hinwegfliegen. Frühmorgens wird es im Sommerschlafsack langsam frisch. Ich kann es kaum erwarten, bis es endlich zu dämmern beginnt. Als es dann endlich heller wird und der lang ersehnte Sonnenaufgang näher rückt, kann ich nicht einen einzigen Mornell hören, geschweige denn sehen. Der Plan B mit den Steinböcken kommt ebenfalls nicht zum Zug, da sie sich praktisch an der identischen Stelle wie am Vorabend aufhalten. So laufe ich weiter auf der Suche nach möglichen Motiven. Nach über einer Stunde des Erkundens finde ich mit Verspätung doch noch einige Mornells.
Mit der Zeit kommen wieder einige Individuen näher zu mir. Es ist immer ein besonderes Erlebnis für mich, wenn rings um einen Wildtiere sind und ich praktisch in ihr Leben eintauchen darf. Insbesondere die Jungvögel scheinen weniger scheu zu sein. Mich fasziniert der Gedanke, dass die jungen Mornellregenpfeifer in ihren ersten Lebensmonaten im hohen Norden vielleicht noch nie einem Menschen näher begegnet sind.
Bis ich wieder Abschied nehme von den Mornellregenpfeifern sind etwas mehr Bilder entstanden, als dass ich Höhenmeter zurückgelegt habe. Die Wanderung mit dem schweren Gepäck auf dem Rücken forderte mich allerdings ziemlich heraus, sodass ich die nächsten Tage mit Muskelkater etwas ruhiger angehen musste. Dafür hatte ich Zeit, die über zweitausend Fotos durchzusehen. Von den Bildern, von denen ich in den Tagen bzw. Nächten davor geträumt hatte, konnte ich allerdings keines realisieren. Deshalb werde ich bestimmt wieder einmal aufbrechen, um die Gäste aus dem hohen Norden bei ihrer Zwischenlandung in der Schweiz zu fotografieren.
4 Comments
Wunderbare Bilder Flurin, da werden Erinnerungen wach an frühere Zeiten 🙂
Ja, unser letzter Besuch war schon viel zu lange her…
Vielen Dank für die eindrückliche Schilderung und die tollen Fotos. Wäre wirklich manchmal praktisch, wenn das Equipment nicht so schwer wäre…
Leichteres Equipment (bei gleichbleibender Qualität) wäre wirklich praktisch für die Touren in den Bergen 😉