Ein Austauschsemester in Island ohne Papageitaucher? Undenkbar – selbst für nicht (besonders) vogel-affine Studentinnen und Studenten! Schon bei einem Spaziergang in Reykjavík sind sie unübersehbar: Als Plüsch-Version stehen sie in den verschiedensten Grössen (und Formen) in den Vitrinen der Einkaufsmeile und warten auf die Touristen. Mit dem Tourismus-Boom in Island wurde der Papageitaucher immer mehr zur Sehenswürdigkeit hochstilisiert. Noch heute verstehen viele Isländer nicht, weshalb Touristen so scharf auf diese drolligen Vögel sind. Während Jahrhunderten war der Papageitaucher in Island nicht in erster Linie eine lebendige Sehenswürdigkeit, sondern ein willkommener “Braten” im Sommer. Noch heute werden die Papageitaucher im Norden von Island mit Netzen bei der Rückkehr zu den Bruthöhlen gefangen. Ironischerweise treiben heute Touristen selbst durch das Ausprobieren in den Restaurants die Nachfrage nach dessen Fleisch nach oben, und das, obwohl die Vögel gefährdet sind und gemäss der International Union for Conservation of Nature (IUCN) bis 2060 mit einem Bestandsrückgang von bis zu 79% zu rechnen ist…
Nach dem ersten Misserfolg (hier könnt ihr mehr darüber lesen) startete ich einige Wochen später erneut einen Versuch, die befiederte Touristenattraktion doch noch fotografieren zu können. Damit es diesmal auch sicher funktioniert, habe ich mir gleich mehrere Vogelfelsen herausgesucht, welche ich ansteuern möchte. Bei bis zu 10 Millionen Puffins oder zwei Drittel der Weltpopulation, welche auf der Atlantikinsel brüten, sollte ich ja schon irgendwo ein kooperatives Exemplar finden! So starte ich meine “Puffin tour” und breche ans andere Ende von Island auf. Nach einer stundenlangen Autofahrt bei schönstem Wetter nähere ich mich gegen Abend meinem Ziel. Plötzlich sehe ich eine dicke Nebelbank über dem Atlantik, welche sich über die Küste wälzt. Da wird ja wohl nicht mein Ziel liegen, oder?! Ein Blick auf Google Maps lässt mich böses ahnen… Tatsächlich fahre ich eine Stunde später durch dicken Nebel. Für kurze Zeit sorgt die Routenführung durch Google Maps für Aufregung: Der vermeintliche Weg erweist sich für “normale” 4×4 als unpassierbar, beinahe bleibe ich fernab der Zivilisation stecken – erst noch ohne Internetempfang. Gerade noch rechtzeitig kehre ich um und kann dem richtigen Weg zu meinem Ziel folgen. Anstatt vom goldigen Licht der Mitternachtssonne werde ich von Nebel, Nieselregen und Wind begrüsst. Immerhin zieht sich der Nebel am nächsten Tag auf den Atlantik zurück und gibt die Sicht auf die Bewohner der Vogelfelsen frei. Endlich kann ich die Papageitaucher fotografieren!
Windig ist es jedoch immer noch, sodass mich regelmässig eine Böe erfasst und am Objektiv rüttelt. Die Grösse des Objektivs und der Gegenlichtblende erweisen sich nun als Nachteil, fällt es mir doch schwer, die agilen Vögel auch nur ab und zu im Sucher zu behalten und scharf zu stellen. Neben den Puffins fliegen immer wieder auch Tordalke vorbei.
Während die Puffins zuoberst am Vogelfelsen im Gras in Höhlen brüten, nisten die anderen Seevögel wie die Trottellumme in den senkrechten Klippen auf kleinen Felsvorsprüngen, meist weiter unten im Vogelfelsen. Deshalb braucht es ohne Kletterausrüstung auch mehr Glück, um diese Bewohner des Vogelfelsen fotografieren zu können.
Leider nähert sich gerade rechtzeitig gegen Abend wieder eine bedrohliche Nebelwalze der Küste. Es dauert nicht lange, bis sie mich und die Vogelfelsen verschluckt hat. So breche ich zu einer kleinen Erkundungstour auf, wobei ich mitten in der Nacht zwar nicht das ersehnte Nebelloch, dafür aufgeregt rufende Alpenstrandläufer finde. Ihr Unmut richtet sich jedoch nicht gegen das miserable Wetter, sondern gegen den zweibeinigen Eindringling in ihrem Revier. Gleich neben ihnen purzeln ihre Küken unbeholfen durch die Tundra. Im nass-kalten Wetter könnten sie rasch auskühlen ohne den elterlichen Schutz, sodass ich mich rasch zurückziehe und wieder im Weiss des Nebels verschwinde.
Später herrscht um die Mittagszeit erneut eitel Sonnenschein und wieder keimt in mir die Hoffnung, dass es um Mitternacht endlich einmal keinen Nebel haben könnte. Sicherheitshalber versuche ich nun auch mitten am Tag zu fotografieren; normalerweise fokussiere ich mich des günstigen Lichts wegens auf die Zeit kurz vor und nach Sonnenauf- bzw. -untergang. Jetzt scheinen die Sonnenstrahlen bzw. Flares förmlich vor Freude auf dem Atlantik zu tanzen und laden geradezu dazu ein, auch bei diesem grellen Licht den Auslöser der Kamera zu betätigen.
Mit fortschreitender Zeit steigt meine Hoffnung auf das gleiche Spektakel in der Mitternachtssonne – was wäre das für eine Stimmung ohne diesen lästigen Nebel! Leider halten die positiven Gedanken allein noch keinen Nebel fern. Immer wieder wird mein Hoffen auf die Mitternachtssonne in den Abendstunden von aufkommenden Wolken oder Nebelbänken zerstört. Die einzige Variation scheint im Zeitpunkt des Heranrollens der Nebelwalze und den verschiedenen Grau- bzw. Dichtestufen des Nebels zu liegen. Da ich normalerweise sehr gerne bei speziellen (Gegen-)Licht Situationen fotografiere, war die Woche eine kleine mentale Herausforderung: Vor mir sitzen meine Traummotive, jedoch werden sie zur goldenen Stunde von dichtem Nebel verhüllt. Mit einigen Portrait- bzw. Nahaufnahmen gelingt es mir, dem Nebel ein Schnippchen zu schlagen und ihn aus dem Bild zu verbannen.
Im Gegensatz zu mir scheinen sich die Basstölpel kein bisschen vom misslichen Wetter beeindrucken zu lassen. Andauernd gibt es etwas mit dem Nachbar zu diskutieren, sodass eine beeindruckende Geräuschkulisse herrscht. Garniert mit dem “Geschmack” des Guanos (streng riechender Seevogelkot), den es je nach Windlage auch einmal die Klippe hochwinden kann (und der die Frontlinse zum Glück knapp verfehlt), ergibt sich eine einmalige Stimmung. Selbst im dichtesten Nebel mit nur wenigen Metern Sichtweite bleibt der Vogelfelsen so spür- bzw. erlebbar.
Tagtäglich harre ich bei feucht-kalten Bedingungen jede Nacht bis vier Uhr morgens aus – immer in der verzweifelten Hoffnung, irgendwann einmal die verzaubernde Mitternachtssonne aus den Werbespots zu erblicken. Dabei beobachte ich, soweit es der Nebel erlaubt, gespannt das Treiben in der Vogelkolonien. Immer wieder experimentiere ich mit verschiedenen Ansätzen, um dennoch fotografieren zu können. Mit “Mitziehern” versuche ich etwas von der Dynamik festzuhalten.
Immerhin an einem Abend ist der Lebensraum des Puffins für kurze Zeit nicht vom Nebel verschleiert – wie schön es in Island doch sein könnte! Türkisblaues Wasser in der Bucht und sattes Grün an der Küste sorgen beinahe für Südsee-Feeling, würde ich nicht dick eingepackt mit Kappe und Daunenjacke herumlaufen.
Wenige Minuten später rollt die alltägliche Nebelbank über die Küste. Um ein Uhr in der Früh geschieht tatsächlich das Unfassbare – für fünf (!) Minuten kämpft sich die Mitternachtssonne zwischen Nebel- und Wolkenfeldern durch! Wie ein Verrückter renne ich weiter hoch und dem Felsen entlang auf der Suche nach einem Puffin im dem so seltenen Gegenlicht. Ausser Atem entdecke ich gerade noch rechtzeitig eine passende Stelle. Bereits nach wenigen Aufnahmen ist das Spektakel wieder vorbei – und ich stehe wieder im Nebel.
Fasziniert beobachte ich jeweils, wie die Puffins nach einem erfolgreichen Tauchgang mit dem Schnabel voller Sandaale zur Bruthöhle zurückkehren. Wie sie es wohl hinbekommen, mit den Fischen im Schnabel noch weitere zu fangen?
Auf jeden Fall scheinen die Jungen einen ähnlich grossen Appetit zu haben wie ich, und die Puffin-Eltern werden bis zum Ausfliegen ihres kleinen Nimmersatts wohl noch manchen Schnabel voller Fische herbeischleppen müssen. Ich kann mir kaum vorstellen, wie immens die Herausforderung für die Eltern ist, wenn das Essen nicht aus dem Supermarkt gleich um die Ecke kommt, sondern die Fische selbst im offenen Atlantik gefangen werden! In den letzten Jahrzehnten hat der Mensch die Herausforderung für die Puffin-Eltern zusätzlich vergrössert: Aufgrund des Klimawandels verschieben sich die grossen Fischschwärme in Richtung kältere Gewässer und entfernen sich dadurch von der Küste. Zusammen mit der Überfischung der Gewässer erschwert dies für die Puffins die Nahrungssuche, mit dem Resultat, dass sie schlimmstenfalls nicht mehr genügend Futter für ihr Junges auftreiben können und dieses verhungert – mit langfristig möglicherweise fatalen Folgen für die Seevögel: Eine starke Abnahme der Bestände und die Aufgabe etlicher Kolonien wird heutzutage prognostiziert.
Zurzeit sind die Puffins auf dem offenen Meer unterwegs und werden erst in einigen Monaten nach Island zurückkehren. Trotz (oder vielleicht gerade wegen des Wetterpechs?) würde ich liebend gerne wieder einige Nächte bei den Vogelfelsen verbringen, den Streitigkeiten zwischen den Seevögeln sowie den sich brechenden Wellen lauschen und gelegentlich eine Nase voll Guano einatmen. Beim Verfassen dieses Blogartikels kam auf jeden Fall richtig Island-Sehnsucht auf, auch wenn ich im Juni nach einer Woche mit “Mitternachtnebel” doch froh war, ein neues Gebiet in Island aufzusuchen und bei hoffentlich besseren Wetterbedingungen eine meiner Traumarten von Island zu suchen… mehr dazu im nächsten Blogbeitrag.
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