Während die Wellen grösser und grösser werden, wird der Handyempfang immer schlechter und schlechter – bis er schliesslich ganz ausbleibt. Die Bootsfahrt fühlt sich unterdessen wie eine (ungewollte) Achterbahnfahrt an. Spätestens als wir uns konzentrieren müssen, um trotz der Wellen nicht von der Sitzbank zu fallen, wird die Fahrt für mich eher zum notwendigen Übel und Abenteuer als zum Genuss – und dies trotz schönstem Wetter. Obwohl ich in diesem Jahr etliche Stunden bzw. Tage auf See verbracht habe, scheinen mir nicht nur Bart und ein paar Kilos zum isländischen Seemann zu fehlen… Nachdem wir endlich wieder festen Boden unter den Füssen haben, steigt die Vorfreude auf die nächsten Tage sprunghaft an: Wird nun endlich mein Traum wahr werden? Seit meiner Ankunft in Island träume ich von einer Begegnung mit einem Polarfuchs. Bislang habe ich ausser zahlreichen Spuren von den Heimlichtuern nichts gesehen. Dementsprechend gross ist meine Anspannung bei der Ankunft in einer Gegend mit besonders hoher Fuchsdichte: Sie soll hier bis zu zehnmal höher sein als mitten im kargen Hochland. Die Abgelegenheit des Reichs der Polarfüchse von der Zivilisation verlangt nach einer etwas längeren Planung: Ohne Einkaufsmöglichkeit und Handyempfang will nicht nur das Essen gut eingeplant sein. Plötzlich ohne Verpflegung dazustehen wäre in etwa gleich unpraktisch, wie im entscheidenden Moment in der Kamera keinen Akku oder Speicherplatz mehr zu haben. Nach dem Einrichten des Basislagers breche ich zu einer ersten Erkundungstour auf, um Ausschau nach möglichen Motiven zu halten. Auf einmal flitzt ein braunes Fellknäuel durch die Vegetation und die Vögel schlagen Alarm: Erstmals sehe ich nicht nur die Spuren, sondern den arktischen Jäger selbst und kann endlich einen Polarfuchs fotografieren in Island. Rastlos läuft er in der Gegend umher, auf der Suche nach einem unachtsamen adulten Vogel, dessen Gelege oder einem Jungvogel. Nach kurzer Zeit entschwindet er aus meinem Sichtfeld und taucht die nächste Stunde nicht mehr auf.
Aufgrund ihres grossen Reviers (gegen Ende meines Aufenthalts schätze ich es auf über einen Quadratkilometer) bleibt es bei einigen wenigen Zufallsbegegnungen in der ersten Nacht und sehr wenigen Fotos aus eher grösserer Distanz. Würde es in dem Stile weitergehen, so dürften die Akkus und Speicherkarten für gut und gerne einen Monat reichen! In Anbetracht der dürftigen Ausbeute der ersten Nacht erkundige ich in den folgenden Tagen die Gegend grossräumig; in der Hoffnung, irgendwo eine Stelle mit erhöhter Antreffwahrscheinlichkeit eines Polarfuchses zu finden. Dies entpuppt sich als grössere Herausforderung als ursprünglich gedacht: Täglich lege ich zw. 15 und 20km (meist mit der Fotoausrüstung) in teils anspruchsvollem Gelände zurück: Knietiefe Flussdurchquerungen, steile Anstiege und mühsam zu begehende Steinstrände prägen meine Routen im Reich der Polarfüchse. Am zweiten Tag entdecke ich immerhin zwei Füchse. Dummerweise hatte ich aufgrund des harten Lichts über Mittag und zwecks Gewichtsoptimierung ausgerechnet diesmal darauf verzichtet, die Fotoausrüstung mitzuschleppen, wollte ich doch möglichst viel von der Gegend erkunden. Pünktlich zur goldenen Stunde scheinen die Polarfüchse verschwunden zu sein, von Nebel und Wolken hingegen bleibe ich für einmal verschont. So auch in der dritten Nacht, als während eines sechsstündigen Ansitzes nicht ein einziger Fuchs in Sichtdistanz vorbeikommen möchte. Gegen zwei Uhr in der Früh kämpfe ich langsam aber sicher gegen die Müdigkeit an. Dazu gesellt sich eine mehr oder weniger leise Enttäuschung über die bisherige fotografische Ausbeute bei den Polarfüchsen. Die zahlreichen Wanderungen haben bisher nur meinen Energiebedarf stark erhöht, aber noch nicht zu voll(er)en Speicherkarten geführt. Im Gegensatz zu der letzten Woche komme ich nun immerhin in den Genuss der Mitternachtssonne und magischen Stimmungen, nur sind meine Wunschmotive alles andere als kooperativ und zeigen sich so gut wie nie… Just als ich mich frage, wie lange ich denn noch ausharren solle, erregt eine kleine Gestalt am Horizont meine Aufmerksamkeit. Der Blick durch den Feldstecher bestätigt meine Vermutung: Ein Polarfuchs läuft langsam in meine Richtung – endlich! Auf einmal bin ich wieder hellwach und lege mich vorsichtig hin. Aufmerksam versuche ich jede Bewegung des Polarfuchses zu interpretieren. Er scheint neugierig und vorsichtig zugleich zu sein und kommt langsam näher. Vorsichtig bewege ich meinen vor Aufregung leicht zitternden Finger in Richtung Auslöser und drücke ab. Klick. Für einen Moment lauscht der Polarfuchs dem unbekannten Geräusch und hält inne. Klick-Klick. Nach drei Tagen, etlichen Stunden des Wartens und Wanderns hat es endlich zu einigen Fotos gereicht – und das erst noch im Licht der Mitternachtssonne!
Zu meiner Freude kommt der Polarfuchs noch näher und bleibt in der Wiese vor mir stehen. Nach einigen weiteren Bildern zieht er weiter, auf der Suche nach etwas Fressbarem, während ich etwas verwundert, aber überglücklich über die Beobachtung noch ein Weile an Ort und Stelle verweile.
Mit Glückshormonen durchflutet mache ich mich eine Stunde später auf den Rückweg zum Zelt. Für einmal kostet mich auch die knietiefe Flussdurchquerung bei wenigen Grad Celsius über dem Gefrierpunkt keine Überwindung. Da ich nun allem Anschein nach einen passenden Ort gefunden habe, besuche ich ihn auch am nächsten Tag wieder. Allerdings scheine ich unterdessen mein Fotoglück bei den Polarfüchsen aufgebraucht zu haben – zumindest für den Moment. Dasselbe Individuum läuft während der Nacht nur einmal bei mir vorbei.
Der Polarfuchs ist das grösste einheimische Landsäugetier in Island (die Rentiere wurden im 18. Jahrhundert von Norwegen eingeführt). Vermutlich erreichten sie die Insel während der letzten Eiszeit von Norden her über den gefrorenen Atlantik. Mit ihrem dicken Fell sind sie ideal an die arktische Witterung angepasst. Im Sommer ist der Tisch insbesondere entlang der Küste reich mit Futter (Seevögeln) gedeckt, sodass sie für den harten Winter mit äusserst spärlich vorhandener Nahrung etwas Fettreserve aufbauen können. Generell finden sie entlang der Küste wesentlich mehr Nahrung als im Hochland oder weiter nördlich Richtung Arktis, weshalb ihre Reviere hier mit einigen wenigen Quadratkilometern verhältnismässig “klein” sind. Auf den Spitzbergen (deutlich über dem Polarkreis gelegene Inseln) kann das Revier der 3-5kg leichten Polarfüchse stolze 50 Quadratkilometer umfassen! Ich mag mir kaum ausdenken, wie lange ein Fuchs dort laufen muss, bis er etwas zwischen die Zähne bekommt… Ob ich wohl mehr Kilometer für die Wanderungen und mehr Zeit für die Ansitze für die Polarfuchs-Fotos aufwände, wie ein Polarfuchs in Svalbard für seine Mahlzeiten? Wie dem auch sei: Zwei Tage später treffe ich auf einen am Strand entlang schnürenden Polarfuchs. Wahrscheinlich ist er auf der Suche nache einem schnellen Imbiss.
Auf Island haben die Polarfüchse einzig den Menschen zu fürchten, keine Steinadler oder Wölfe haben es auf sie abgesehen. Sind die Polarfüchse früher vor allem wegen ihres Fells bejagt worden, so führen Jäger und Landwirte heutzutage die “Schädlingsprävention” sowie die Tradition als Jagdberechtigung auf: Polarfüchse würden zahlreiche Lämmer reissen, so ihre Argumentation (ähnlich, wie wir es in der Schweiz von der Debatte um den Wolf kennen). Dies widerspricht europäischen Abkommen zum Artenschutz, unter welchen der Polarfuchs strikt geschützt ist. Dabei werden teilweise bis heute Prämien für den Abschuss dieser ikonischen Art bezahlt und es besteht in Island kein – den heutigen Standards entsprechendes – Konzept für das Management des Polarfuchses. So tauchen z.B. die proklamierten “Schäden” der Schafbesitzer merkwürdigerweise in keiner Statistik auf. Wissenschaftler teilten mir mit, dass Polarfüchse äusserst selten Lämmer reissen würden, da sich diese in der empfindlichen Zeit nach der Geburt in den Ställen befänden (draussen liegt das dürre Gras vom letzten Sommer zu dieser Zeit oft unter einer Schneedecke). Die Jagd führt dazu, dass die Polarfüchse ausserhalb der Naturschutzgebiete mit einem Jagdverbot äusserst scheu und vorsichtig sind. Ganz anders verhalten sie sich in langjährigen Schutzgebieten, wo sie über Generationen die Scheu vor den Menschen teilweise verloren haben. Dennoch glaube ich für einen Moment zu träumen, als ein Polarfuchs tatsächlich vor mir auf einen Felsen springt und sich auf der vom Wind abgewandten Seite schlafen legt.
Irgendwann hat es sich jedoch auch auf dem bequem anmutenden Steinbett ausgeschlafen und er läuft nach einem kurzen Stretching los. Seinem entschlossenen Blick nach zu urteilen, scheint ihn irgendetwas an mir oder in meiner Umgebung zu interessieren. Verpflegung habe ich keine dabei. Rieche ich aufgrund meiner mehrtägigen “Kartoffelstock mit Thunfisch und Dörrtomaten” Diät (ist alles klein verpackbar, haltbar und schmeckt in der Wildnis ganz ok) bereits nach Fisch? Oder liegt es doch an der fehlenden Dusche? Schritt für Schritt kommt er näher und näher. Dabei lässt er sich nicht durch den ratternden Auslöser irritieren, bis er unmittelbar neben mir vorbeiläuft und seine Suche nach etwas Fressbarem dem Strand entlang fortsetzt. Die Speicherkarte hat sich nun doch noch gefüllt, während der Essensvorrat schon deutlich abgenommen hat, und ich hin und wieder noch hungrig in den Schlafsack gekrochen bin.
Polarfüchse gibt es in zwei verschiedenen Morphen: Die “weisse” Morphe hat im Winter ein rein weisses Winterfell und ist im Sommer gräulich gefärbt, während die “blaue” Morphe im Winter dunkelgrau und im sommer bräunlich ist. Die weisse Fellfarbe wird durch ein rezessives Allel verursacht, d.h. dass auch dunkel gefärbte Eltern Nachkommen mit hellem Fell zeugen können (sofern beide Eltern das rezessive Allel besitzen). In Island sind schätzungsweise ⅔ der Individuen dunkel. Mein Traum von einer Begegnung mit einem Polarfuchs der weissen Morphe im Winter sollte während des Austauschsemesters unerfüllt bleiben.
Hingegen finde ich zu meiner Freude jetzt im Sommer einen Fuchsbau direkt neben dem Weg. So kann ich mich auf dem Weg von weiter unten anschleichen und mich hinter einem Stein verstecken, während die Jungen weiter miteinander und einem Elternteil spielen. Die Familie scheint mich entweder nicht zu bemerken oder sich nicht an mir zu stören, sodass ich für eine kurze Zeit sogar in das Leben einer Polarfuchsfamilie eintauchen darf.
Im Gegensatz zum Geschwister im vorigen Bild trägt dieses Junge (im Bild unten) beide Allele für die helle Fellfarbe. Tollpatschig erkunden die Jungen die Umgebung des Baus und purzeln durch die Vegetation, bis sie nur noch wenige Meter vor mir stehen.
Stundenlang könnte ich den kleinen Polarfüchsen beim Spielen zusehen und in ihre Welt eintauchen. Immer wieder stolpern sie über ihre eigenen Pfoten und legen eine Bruchlandung hin, wenn sie mit ihren Geschwistern spielen. Nach spannenden Einblicken in das Familienleben der Polarfüchse ziehe ich mich wieder vorsichtig zurück, damit ich die Familie auf keinen Fall störe. Ein Ranger hat mich schon kurz nach der Ankunft gebeten, nicht zu lange beim Bau zu Verweilen, sollte ich einen entdecken.
Als praktisch die ganze Ausrüstung wieder verpackt ist, kommt gegen Ende unseres Aufenthalts Hektik auf: Hungrig blicken wir auf den laufenden Kocher, als auf einmal ein Boot in die Bucht einfährt. Das wird doch wohl nicht schon unser Boot sein?! Schliesslich haben wir am Vortag noch den Ranger gefragt, wann das Boot anlegen sollte und dieses wäre nun eine Stunde zu früh. Der Blick durch den Feldstecher zerschlägt dann die Hoffnungen auf unser Mittagessen: Das Boot kommt uns abholen und die Pasta muss unverrichteter Dinge auf später aufgeschoben werden. Vielleicht ist es bei leichtem Wellengang auch die bessere Option für Nicht-Seemänner, mit nüchternem Magen auf die Bootsfahrt zu gehen…
Auch wenn ich mir insgeheim durchaus noch mehr Möglichkeiten zum Fotografieren erträumt habe, fahre ich ziemlich glücklich über das Erlebte und die Fotos mit dem Boot zurück in die Zivilisation. In dieser Woche in der isländischen Wildnis durfte ich unvergessliche Momente erleben. Dennoch muss ich gestehen, dass ich mich dann aber doch auch wieder einmal auf eine nicht-rationierte Mahlzeit gefreut habe und mir in der ersten Bäckerei gleich den Magen voll geschlagen habe 😉
2 Comments
Herzlichen Dank Flurin für diesen spannnenden Einblick. Wir werden Juni/Juli 7 Wochen auf Island verbringen. Polarfüchse zu sehen wäre ein grosser Traum. Allerdings werden wir nicht so grosse Entbehrungen auf uns nehmen können. Ich werde versuchen, die Polarfüchse auf der Halbinsel Melrakkaslétta zu finden… die Hoffnung stirbt zuletzt…
Liebe Grüsse
Stephan Peyer (GDT Regionalgruppe CH)
Was für ein wunderschöner Bericht und noch schönere Bilder! Da werde ich gleich etwas wehmütig: ich wollte Anfang Sommer nämlich genau deswegen in die Westfjorde, doch es reichte knapp nicht wegen den Corona-Restriktionen. Ich hoffe sehr, es irgendwann nach zu holen und dann auch einmal so einem schönen Eisfuchs “in natura” zu begegnen. Bis dahin erfreue ich mich an deinen Bildern 🙂 Danke & alles Gute im 2021!