Leise rieseln neben uns Steine die steile Bergflanke nach unten. Gespannt lauschen wir genauer hin. Immer wieder hören wir Steine herunterfallen, doch noch können wir nicht erkennen, weshalb. Vorsichtig wagen wir uns näher an den Abgrund und versuchen die Geräusche zu Orten. Auf einmal entdecken wir den Verursacher direkt unter uns: In der kargen Landschaft sucht eine Gams nach Nahrung. Eine unerwartete Begegnung, bin ich doch mit meiner Schwester eigentlich unterwegs für ein Fotoshooting während dem Trainingslager. Allerdings muss dies nun einen Moment warten, da die eleganten Kletterer zu meinen Lieblingsmotiven gehören. So versuche ich, eine etwas bessere Perspektive zu erhalten, ohne Steine auszulösen oder gleich den Hang herunterzurutschen.
Mit der Zeit entdecken wir immer mehr Gämsen, darunter auch einige Jungtiere. Die meisten sind jedoch zu weit entfernt für brauchbare Fotos. Da das Gelände zu steil ist für eine Annäherung, bleibt uns nicht viel anderes übrig, als abzuwarten und die Gämsen zu beobachten. Auf einmal tauchen am Horizont ganz viele kleine Punkte auf. Ob es hier so viele Gämsen gibt? Ein Blick durch das Teleobjektiv zeigt, dass es sich allerdings nicht um Gämsen, sondern um Schafe handelt. Schaf um Schaf erscheint am Horizont. Beinahe in Reih und Glied läuft die Herde durch die Gerölllandschaft in unsere Richtung. Ich kann mich nicht daran erinnern, schon einmal derart viele Schafe auf einmal gesehen zu haben. Fasziniert vom Schauspiel wechsle ich schon wieder mein Motiv, da die Gämsen nicht näher kommen möchten. Diese Gelegenheit mit der Schafherde möchte ich mir nicht entgehen lassen.
Unterdessen sind es hunderte Schafe, welche in unsere Richtung laufen. Was die hier oben suchen? Frisches Gras gibt es praktisch keines… Beim genauen Hinschauen fällt auf, dass die Schafe nicht alleine sind. Herdenschutzhunde begleiten die riesige Herde, was meinen Puls gleich etwas ansteigen lässt. In Zürich mache ich während den Trainings jeweils einen grossen Bogen, selbst bei kleinen Wadenbeissern, die nicht einmal so gross sind wie der Kopf der Herdenschutzhunde. Lange Zeit zum Überlegen, was wir tun sollen, bleibt allerdings nicht, denn die Vorhut erreicht uns schon bald. Ganz ruhig versuche ich mich hinter dem Objektiv zu verstecken.
Der Hund kommt näher und näher, bis er formatfüllend im Bild ist. Zu meiner Überraschung werden wir jedoch weder von den Hunden angebellt noch angegriffen Bald darauf sind wir umzingelt von Schafen und Hunden. Etwas ungläubig stehen wir inmitten der Herde. Einige Hunde scheinen Interesse an meiner Fotoausrüstung zu bekunden und möchten den Inhalt meines Rucksacks inspizieren.
Sie stellen allerdings rasch fest, dass es nichts Fressbares darin gibt, sondern vor allem viel Glas und Metall. So übernehmen sie bald wieder ihre Funktion als Hüter der Schafe und ermöglichen mir noch ein paar Aufnahmen mit dem Weitwinkelobjektiv. Ich hätte ehrlich gesagt nicht daran gedacht, so nahe und entspannt bei (15!) Herdenschutzhunden zu sein.
Die Herde zieht weiter und lässt uns immer noch staunend zurück. Wenn alle (Herdenschutz-) Hunde hier so tiefenentspannt sind, dann habe ich als Läufer ja nichts zu befürchten! Dem war dann doch nicht ganz so, mehr dazu aber später. Unterdessen haben sich die Gämsen verständlicherweise zurückgezogen, sodass ich sie nicht mehr fotografieren kann. Somit sind die ungeplanten Unterbrechungen unseres Fotoshootings vorbei und wir können uns wieder auf die ursprünglichen Ziele fokussieren.
Obwohl ich mir eigentlich vorgenommen hatte, mich während des Trainingslagers auf das Training und die Erholung zu konzentrieren und nur bei Gelegenheit (Wild-)Tiere um unsere Unterkunft zu fotografieren, möchte ich dennoch einen weiteren Versuch unternehmen, Gämsen abzulichten. Zu gerne beobachte und fotografiere ich die faszinierenden Kletterkünstler. Auch für die Umsetzung weiterer Bike-Fotos habe ich noch viele Ideen, die ich bei künftigen Besuchen realisieren möchte. Ausreichend Gründe also, um das Gebiet noch mehrmals mit der Kamera zu besuchen.
Da wir die erste Trainingseinheit aufgrund der hohen Temperaturen in der Provence so oder so frühmorgens absolviert hatten, sind wir jeweils sehr früh schlafen gegangen (8-9 Uhr), was das Aufstehen vor Sonnenaufgang definitiv erleichtert hat. Beim nächsten Besuch sind für einmal auch die Gämsen schon richtig früh unterwegs. Noch in der Dämmerung können wir die Silhouette ausmachen. Kurz posiert die Gämse vor dem Bergpanorama im Hintergrund, bevor sie sich in den steilen Felshang begibt.
Weiter unten entdecken wir später ein Gamsrudel. Ich kann mich in einem Bogen etwas an die Gämsen anpirschen. Leicht verdeckt hinter der Geländekante erhalte ich dadurch intime Einblicke in das Leben der Gämsen und kann endlich auch einmal von nahem fotografieren, wie ein Junges gesäugt wird. Auch wenn die Jungen bereits selbst fressen, suchen sie gelegentlich die Mutter auf, um etwas nahrhafte Milch zu erhalten. Bei den wenigen Gräsern in der Schutthalde sicherlich eine sehr willkommene Stärkung, sozusagen natürliche “Energy Milk”!
Mit ihren langen Beinen sehen die Kitze noch etwas schlaksig aus. Doch sie können sich schon (so) mit einer Sicherheit und v.a. Geschwindigkeit in sehr steilem Gelände bewegen, von der ich und viele Trailrunner nur träumen können. In steilen Hängen und Felsen sind die Gämsen so gut wie sicher vor Frassfeinden und Störungen, weshalb sie sich möglichst oft in steilem Gelände fortbewegen. Dank jahrtausendelanger Adaption haben sie sich zu ausgesprochenen Kletterkünstlern entwickelt.
Dennoch halten sich die Jungtiere meist in der Nähe der Mutter auf. Diese überwacht auch die Gegend vor möglichen Gefahren.
Ab und zu trauen sich die Kitze auch etwas weiter weg und begeben sich auf Erkundungstour.
Trotz der hunderten Kilometer und tausenden Höhenmeter im Trainingslager bin ich immer noch deutlich langsamer als die Gämsen unterwegs, insbesondere im steilen Gelände. Dafür hoffe ich, nach dem Trainingslager mit grossen Umfängen mit 360 km (und fast 10’000 HM) in 15 Tagen die Basis für die anstehenden Wettkämpfe im Spätsommer/Herbst gelegt zu haben, welche – zum Glück – auf ebenem Untergrund stattfinden werden. Neben den zahlreichen Trainings, Olympia schauen und viel essen, konnte ich überraschenderweise doch noch ein paar Tierfotos anfertigen. Wen die Sportfotos und Videos interessieren, darf gerne auf unseren Instagram-Kanälen (https://www.instagram.com/flu.run/ und https://www.instagram.com/serainaleugger/) vorbeischauen. Ein paar Bike-Fotos hat es trotz Gämsen schlussendlich doch noch gegeben .
Beim Fotografieren sind uns die Schafe und Herdenschutzhunde nicht mehr begegnet, ganz anders beim Trainieren. Zweimal startete ich im Dunkeln zu einem Longrun. Ausser meinen Schritten und ab und zu einem Insekt ist nichts zu hören. So hat das Laufen etwas Meditatives, sehe ich nur den kleinen Kegel der Stirnlampe und höre nichts ausser meinem Atemzug und meinen Schritten. Meter für Meter gewinne ich an Höhe und stelle nach einer Stunde fest, dass ich gut im Fahrplan bin, um den Sonnenaufgang oberhalb der Baumgrenze geniessen zu können. Auf einmal durchbricht jedoch lautes Gebell die Stille und meine Idylle. Im Schein der Stirnlampe tauchen prompt die Herdenschutzhunde auf. Ihr tiefes Gebell wirkt in der Dunkelheit der Nacht bedrohlich auf mich. Waren diese letzte Woche nicht noch sehr entspannt? Ich sehe, wie sie immer näher auf mich zukommen. Nun verlässt mich der Mut und ich drehe schnell um. Was habe ich ihnen nur angetan? Lasst mich doch bitte durch, ich habe noch ein gutes Stück vor mir bis zum Sonnenaufgang! Mit voll aufgedrehter Stirnlampe unternehme ich nochmals einen Versuch, komme allerdings nicht weiter. Mehrere Hunde rennen auf der Strasse ganz aufgebracht in meine Richtung, und ich kurz darauf ebenfalls wieder Richtung Tal. Dank eines Autostops (für wenige Meter) kann ich die Hunde überlisten bzw. umfahren und erreiche dann den Gipfel doch noch rechtzeitig und zu Fuss. Dadurch kann ich auch noch das letzte Training mehr oder weniger wie geplant absolvieren und die Landschaft zum Abschluss des Trainingslagers ein letztes Mal richtig geniessen.
Neben unvergesslichen Stimmungen frühmorgens während den Trainings und vielen tollen Erinnerungen an das Trainingslager im Süden Frankreichs konnte ich auch einige (Natur-)Fotos mit nach Hause nehmen. Typisch für Ferien waren die zwei Wochen viel zu schnell vorbei. Schon nur aufgrund der schönen Landschaft und Dörfer sowie der leckeren Bäckereien wird es wahrscheinlich nicht mein letztes Trainingslager in dieser Region gewesen sein…
Kommentieren
Lieber Flurin
Wahrscheinlich mit offenem Mund habe ich Deinen fantastischen Bericht gelesen und die wunderbaren Tieraufnahmen “aufgesogen”….einfach nur fantastisch…weiterhin viele schöne Naturerlebnisse wünschen wir Dir. Markus und Lilly