Neben mir brausen Autos auf der Schnellstrasse vorbei, während Jogger ihre spätabendliche Laufeinheit absolvieren oder andere leicht angeheitert in Richtung Partymeile ziehen: Obwohl der Abend bereits weit fortgeschritten ist, pulsiert das Stadtleben weiter. Vor mir wird eifrig geflirtet. Das Brautgeschenk fischelt etwas und stammt – ganz lokal – aus dem Stadtteich nebenan. Reykjavík wird gerne als nördlichste Hauptstadt der Welt bezeichnet und weist daher, wenig überraschend, einige etwas besondere Bewohner auf. Dazu gehören für mich die Küstenseeschwalben, welche mitten in Reykjavík brüten und gerade mit der Paarbildung beschäftigt sind.
Während eines Lauftrainings habe ich die eben von der Antarktis eingetroffenen Seeschwalben bemerkt. Diese führen ein richtiges Jet-Set Leben und folgen dem “Sommer” über den ganzen Planeten. Sie brüten in nördlichen Gefilden (Nordseeküste bis Arktis) und verbringen das Winterhalbjahr auf der anderen Seite des Planeten in der Antarktis. Allein diese Strecke ergibt bis zu 30’000km pro Jahr (!), wobei einige Individuen gemäss einer Studie während einem Jahr gar über 80’000km weit fliegen – ein beachtlicher Aufwand, um immer auf der Sonnen- oder Sommerseite des Lebens zu sein.
Das Leben in der Seeschwalben-Kolonie ist hektisch und es herrscht Geschrei, so laut, dass sogar die röhrenden Automotore übertönt werden. Immer wieder jagen sie sich und versuchen, das Brautgeschenk eines Konkurrenten (so vermute ich jedenfalls) zu erbeuten. Nach einer erfolgreichen Übergabe steht der Produktion der nächsten Generation der Vielflieger jedoch nichts mehr im Weg .
Den meisten Brutvögeln in Island bleibt relativ wenig Zeit zur Aufzucht der Jungen, weshalb sie eilig mit der Balz beginnen nach ihrer Rückkehr. So kommen auch bei den Ohrentauchern bereits Frühlingsgefühle auf, als die Temperaturen in den frühen Morgenstunden noch frostig sind.
Durch die kühle Luft bildet sich über dem See ein wenig Nebel und sorgt für eine spezielle Stimmung. Auch wenn der See vor den Toren Reykjavíks liegt, ist es abgesehen von den balzenden Vögeln still: Vor mir trillern die Ohrentaucher um die Wette, hinter mir ist das Meckern der balzenden Bekassinen und das Knarren der Schneehühner zu vernehmen. So wähne ich mich fern der Zivilisation, obwohl die Velofahrt von zuhause nur etwas mehr als eine halbe Stunde dauert. Vermutlich liegt die gefühlte Einsamkeit auch an der Tageszeit: Schon Ende April geht die Sonne kurz nach vier Uhr morgens auf, sodass frühes Aufstehen angesagt ist. Als der Wecker bereits kurz nach drei Uhr klingelte, wünschte ich mich für einen kurzen Moment tatsächlich zurück in den Januar, als man gemütlich ausschlafen und anschliessend den Sonnenaufgang um elf Uhr fotografieren konnte… Dafür habe ich nun vor vier Uhr in der Früh die Strassen (praktisch) für mich allein und komme wesentlich schneller über die zahlreichen Kreuzungen.
Die Ohrentaucher scheinen vor allem zwei Aktivitätszustände zu kennen: Entweder ruhen sie (was meistens der Fall ist) oder sie streiten sich. Jedes Paar verteidigt sein Revier energisch. Leider fanden die Verfolgungsjagden während der goldenen Stunde ausserhalb der Fotodistanz statt. Immerhin stellte ein Individuum seine Federn vor Erregung einmal kurz vor mir auf, als ein anderer Taucher zu nahe kam.
Manchmal muss man aber nicht einmal eine halbe Stunde Velofahren, um die gefiederten Bewohner Reykjavíks zu fotografieren. Mitte April sind die Wiesen noch braun und werden lediglich von wenigen Einheimischen frequentiert (unabhängig von Corona – die Temperaturen laden einfach zu wenig zum Verweilen draussen ein). Die ankommenden Goldregenpfeifer nutzen diese Flächen für eine erste Rast in Island. So entdecke ich auf dem Rückweg einer erfolglosen Fototour kurz vor der Wohnung eine Gruppe Goldregenpfeifer. Ihre Ankunft, so sagt der isländische Volksmund, verkünde den Frühling. Während ich dick eingepackt in Winterkleidung unterwegs bin, macht mir diese Begegnung Hoffnung, dass meine Sehnsucht nach etwas wärmeren Temperaturen und frischem Grün bald gestillt wird. Enttäuscht muss ich aber später feststellen, dass “Frühling bringen” ein etwas vages Versprechen ist – zumindest für Mitteleuropäer in Island: Erst Mitte bis Ende Mai beginnt die Vegetation tatsächlich langsam zu spriessen…
Deutlich mehr Limikolen als auf den Wiesen trifft man an den Stränden an. Wie es sich für eine “Grossstadt” am Meer gehört, hat auch Reykjavík eine “Strandpromenade”. Aufgrund der eher kühlen Temperaturen gehört der Strand jedoch praktisch ausschliesslich den Limikolen und anderen Wasservögeln – nicht nur Mitteleuropäer wie ich wagen es nicht, bei diesen kühlen Temperaturen im Atlantik zu schwimmen. Platz frei für die Sanderlinge, die Anfang Mai von ihren Überwinterungsgebieten zu den hoch-arktischen Brutgebieten ziehen. Einige legen einen Zwischenstopp an den Stränden rund um Reykjavík ein.
Im Spülsaum, insbesondere im angeschwemmten Seetang, wimmelt es nur so von Fliegen. Der reichhaltig gedeckte Tisch lockt zahlreiche weitere Limikolen an. Unter ihnen sind auch einige Steinwälzer, welche sich an den Fliegen verköstigen. Für eine möglichst tiefe Perspektive habe ich mich möglichst nahe an der Brandung in den nassen Tang gelegt. Dabei muss ich mit einem Auge fortlaufend die Wellen beobachten, damit ich bei einer grösseren heranrollenden Welle noch rechtzeitig ausweichen und das Objektiv ins Trockene retten kann.
Einige der Fliegen sind auch mitten im Winter anzutreffen, sodass auch die überwinternden Meerstrandläufer nicht verhungern. Zu Dutzenden wuseln sie im Seetang umher auf der Suche nach dem nächsten Snack. Ist der Hunger vorübergehend gestillt, gönnen sie sich eine kleine Pause. Die Meerstrandläufer gehören zu einigen der wenigen Vogelarten, welche den Winter in Island verbringen.
Im Winterhalbjahr herrscht am Stadtteich emsiges Treiben – als eine der wenigen Seen gefriert dieser nicht komplett zu und lockt dementsprechend viele Individuen und Arten an. Hektik kommt jeweils auf, wenn Passanten mit ganzen Säcken voll Toastbrot vorbeikommen: Wahrscheinlich sind Wasservögel noch nie in den Genuss von Brot aus einer guten Bäckerei gekommen, anders kann ich mir das Gerangel um Toastbrot aus dem Supermarkt nicht erklären 😉.
Gegen Abend kehrt mehr Ruhe ein und die Wasservögel ziehen sich auf das Eis zurück, solange keine Fütterung stattfindet. Die Velofahrt auf schmalen Reifen an den Stadtteich bei Schnee und Eis gestaltet sich jeweils abenteuerlich, gratis Velo-Techniktraining ist garantiert.
Aufgrund der Vorlesungen und dem Finish der Masterarbeit habe ich im Februar/März weniger in der Stadt fotografiert, da ich dies ja später nachholen könnte – dachte ich. Dabei erwartete ich schon einen Rückgang der Vogeldichte am Teich, musste dann aber feststellen, dass dieser viel stärker ausfiel als erwartet. Ab Mitte/Ende April waren z.B. noch maximal zwei Singschwäne anzutreffen.
Dafür haben sich mit den Ohrentauchern und den Limikolen und später mit den Küstenseeschwalben in der Stadt neue Motive während meines fünfmonatigen Aufenthaltes in Reykjavík zwecks Austauschsemester ergeben.
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