Vorsichtig setze ich einen Fuss vor den anderen. Während die Augen versuchen, sich an das spärliche Restlicht in der Nacht zu gewöhnen, spitze ich dafür umso mehr die Ohren, um die Geräusche der Umgebung zu identifizieren. Gespannt lausche ich dem Konzert der Grillen. In der Ferne sind Kuhglocken zu vernehmen, noch ist aber keine Vogelstimme auszumachen. Während ich warte und angestrengt die Gegend abhorche, raschelt es auf einmal neben mir in der Wiese: Vermutlich eine Maus, welche sich ihren Weg durch den Gräserdschungel bahnt. Und dann ertönt einige Minuten später ein monoton flötendes “djuhi”. Was scheinbar manche an eine Alarmanlage erinnert – und weswegen es sogar schon zu Feuerwehreinsätzen gekommen sein soll – ist der Ruf der Zwergohreule. Kurz nach dem Männchen setzt das Weibchen mit einer leicht höheren Stimmlage ein. Langsam laufe ich näher, halte inne und stelle das Mikrofon ein, um das Duett aufzunehmen.
Im Rahmen meines Zivildiensteinsatzes bei der Vogelwarte war ich zwischen April und Juni für ein Projekt über die individuellen Unterschiede der Stimmen der Zwergohreulen viele Nächte auf der Suche nach den kleinen, faszinierenden Eulen. Auch wenn sie in guten Nächten sehr aktiv sein können, und die Stimme über mehrere hundert Meter hörbar ist, so waren sie aufgrund des nass-kalten Frühlings – als wärmeliebende Art mit Verbreitungsschwerpunkten in der Mittelmeerregion verständlicherweise – selten in Hochstimmung. Dementsprechend oft gelangen keine wirklich brauchbaren Stimmaufnahmen, und wir mussten frühmorgens mit praktisch leeren Speicherkarten zurückkehren…
Noch schwieriger als die Eulen auch von Nahem zu hören ist sie zu Gesicht zu bekommen. Viele Nächte vergingen, bis ich endlich einmal einen Heimlichtuer im Licht einer Laterne erhaschen konnte. Da ahnte ich bereits, dass es wohl eine ziemliche Herausforderung werden könnte, die gut getarnten Vögel auch noch zu fotografieren. Die Tatsache, dass sie auch während der Jungenaufzucht nur nachtaktiv sind, macht das Unterfangen nicht einfacher. Die einzige Chance auf Fotos bei Tageslicht besteht darin, ein ruhendes Individuum in einem Baum zu entdecken.
Im Gegensatz zu den anderen Eulenarten in der Schweiz ist die Zwergohreule auf Grossinsekten als ihre Hauptnahrung angewiesen, weshalb sie als einzige einheimische Eule Langstreckenzieherin ist. Ihr Überwinterungsgebiet liegt südlich der Sahara. Nur in landwirtschaftlich extensiv genutzten Wiesen findet sie genügend Grossinsekten. Aufgrund der Intensivierung der Landwirtschaft und der Lebensraumzerstörung ist ihr Bestand im Genferseegebiet und im Wallis sehr stark eingebrochen. Mit nur einem verbleibenden Brutpaar konnte die Art äusserst knapp dem Aussterben in der Schweiz entkommen: Seit der Jahrtausendwende steigt der Bestand im Mittelwallis aufgrund von Fördermassnahmen wieder leicht an. So brüten wieder zwischen 30 und in besonders guten Jahren bis zu 70 Paare im Rhonetal. Der Zwergohreule macht auch der Mangel an natürlichen Bruthöhlen zu schaffen. Mit dem Anbringen von Nistkästen kann hier auf einfache Art erfolgreich entgegengewirkt werden…
Zu Beginn träume ich jedoch davon, zum Fotografieren eine besetzte natürliche Höhle zu finden. Sobald ein Individuum in der Dämmerung aus der Höhle blicken würde, könnte es ansprechende Fotos geben – so stellte ich mir das zumindest vor. Allerdings musste ich diese Ambitionen rasch einmal aufgeben. Meine Hoffnung beschränkt sich bald darauf, dass immerhin ein passender Nistkasten besetzt sein würde. Schlussendlich erhalte ich die Info, dass in einem zum Fotografieren geeigneten Nistkasten direkt neben einem kleinen Weg ein Eulenpaar erfolgreich Junge hochzieht. Damit meine Präsenz möglichst keine negativen Auswirkungen auf die Brut hat, warte ich mit Fotografieren, bis die Jungen ein gewisses Alter erreicht haben. Beinahe habe ich zu lange gewartet: Beim ersten Versuch entdecken wir zu unserer grossen Überraschung in der fortgeschrittenen Dämmerung einen Jungvogel bereits in der Mitte der Birke. So schnell haben wir nicht mit dem Ausfliegen der Jungen gerechnet! Die junge Zwergohreule sieht bereits beinahe wie eine ausgewachsene aus, nur wenige Überreste des Flaums sind noch vorhanden.
In der Nacht verlässt sein kleines Geschwister ebenfalls den Nistkasten. Vermutlich knurrte der Magen ganz ordentlich und es erhoffte sich durch die Positionierung vor dem Nistkasten schneller das erste Heupferd des Abends von den Eltern zu erhalten 😉. Bei der lang ersehnten Fütterung war es dann zum Fotografieren zu dunkel, sodass ich aufgrund der längeren Belichtungszeit kein scharfes Foto machen konnte (auf den Einsatz eines Blitzes verzichtete ich). Dafür war das Erlebnis umso schöner, endlich in das Leben einer Zwergohreulenfamilie eintauchen zu können, nach den vielen ernüchternden Nächten im nass-kalten Frühling.
Am nächsten Abend möchte ich nachschauen, ob und wo ich die Jungen finden kann. Meine Euphorie erhält einen kleinen Dämpfer, als ich zunächst keine Anzeichen für deren Anwesenheit ausmachen kann. Beim Eindunkeln beginnt sich jedoch ein junges im Nistkasten bemerkbar zu machen und bettelt. Kurz darauf entschliesst es sich erneut, aus dem Nistkasten zu klettern und davor weiter zu betteln. Vom grossen Geschwister fehlt hingegen vorerst jede Spur. Dafür klettert auf einmal ein weiteres Junges aus dem Nistkasten. Zusammen erkunden die beiden Geschwister den Baum ihres Nistkastens und erklimmen mit fortschreitender Nacht höher gelegene Äste.
Ihre Federn und die Muskulatur sind noch zu wenig gut ausgebildet, sodass sie zwar ein wenig flattern aber noch nicht fliegen können, im Gegensatz zum älteren Geschwister. Dieses entdecke ich auf dem Rückweg in einer Baumgruppe über 100 m vom Nistkasten entfernt. Es kann also bereits relativ gut fliegen und erkundet die weitere Umgebung. Umso überraschter bin ich, als ich bei meinem nächsten Besuch bei den Zwergohreulen die beiden jüngeren Geschwister nach etwas Suchen direkt vor mir entdecke.
Bis zum Einbruch der Dämmerung dösen die beiden aneinander gekuschelt vor sich hin und ich geniesse es, noch einmal die Zwergohreulen von Nahem erleben zu dürfen. Gespannt warte ich auf das Eindunkeln…
Sobald die Sonne untergegangen ist, und das Licht schwächer und schwächer wird, erwachen die Ästlinge. Zuerst übt der Kleinere noch etwas verträumt den Einbeinstand, während der Ältere die Umgebung etwas genauer mustert. Das spärliche Licht stellt die Ausrüstung vor Herausforderungen: Praktisch im Minutentakt muss ich die Empfindlichkeitsstufe erhöhen und die Iso-Zahl erreicht fünfstellige Werte, während die Verschlusszeit auf 1/30s sinkt. Noch selten bin ich so froh um eine rauscharme Kamera und die Offenblende von 2.8 beim Teleobjektiv gewesen!
Noch etwas müde streckt der Ästling anschliessend die Zehen und scheint für einen kleinen Moment seine kleinen Krallen zu begutachten, als ob er sich vergewissern möchte, dass sie für die Beute bald zur tödlichen Waffe werden würden. Wahrscheinlich träumt er schon ungeduldig davon, selbst zu Jagen und nicht immer auf die fütternden Eltern warten zu müssen…
Die zweite Übung besteht aus Kopfnicken und dem Stretching der Flügel. Danach scheint das Aufwärmen bereits erfolgreich beendet zu sein, und das ältere Geschwister klettert, springt und flattert wieder die Birke empor. Keine Minute ist das jüngere Geschwister allein, da beginnt es dem Älteren nachzueifern und klettert ebenfalls nach oben.
Den Trainings- bzw. Entwicklungsrückstand kann es allerdings nicht ganz verheimlichen: Als es zum Geschwister herüber flattern möchte, bieten die Flügel bzw. Flugmuskeln noch nicht die gewünschte Unterstützung und es kommt zur Bruchlandung. Anstatt wiedervereint mit dem Geschwister sitzt es nun ein paar Etagen weiter unten in der Wiese… Mit einem Kraftakt beginnt es erneut, den Stamm hoch zu klettern und flattert dabei wild mit den Flügeln, um schneller an Höhe zu gewinnen. Dennoch dauert es ein paar Minuten, bis es – unterbrochen von zahlreichen Verschnaufpausen – endlich beim Geschwister ankommt.
Glücklich über das soeben erlebte, mache ich mich wieder auf den Rückweg. Während den etwas harzigen Nächten im Frühling hätte ich es mir nie erträumen können, doch Momente aus dem Leben einer Zwergohreulenfamilie aus nächster Nähe beobachten bzw. fotografieren zu können. Beim Gedanken an diese Familie, und insbesondere an die beiden Jungen, werde ich noch lange Schmunzeln müssen. Unterdessen werden sie die Schweiz bald in Richtung wärmere Gefilde verlassen und – hoffentlich – nächsten Frühling wieder zurückkehren.
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Guten Abend Flurin
Welch zauberhafte, ausdrucksvolle und so eindrückliche Bilder dir von den Zwergohreulen gelungen sind. Dazu deine Beobachtungen, in dem du einen auf so vielen Ebenen (dein Standort, die Beobachtung, Beschreibung, Bedeutung, Einblick ins fotografische Handwerk und deine sprachliche Formulierung) mitnimmst. Wir sind hell begeistert, gratulieren dir zu soviel Können. Herzlichen Dank für diesen so gehaltvollen Beitrag, der uns eine unbeschreiblich grosse Freude macht.