Die Sonne brennt erbarmungslos auf den Asphalt, während die Olivenbäume und Zypressen für mediterranes Flair sorgen. Mit den Armen auf dem Zeitfahrlenker und dem Klang der hochgezogenen Carbonfelgen habe ich beinahe das Gefühl, wie an der Tour de France durch Südfrankreich zu fliegen – und das trotz 30 Kilogramm Gepäck am Velo. Der Wind weht für einmal aus der richtigen Richtung und sorgt für Tempi jenseits der 30 km/h auf der letzten Etappe Richtung Rhonemündung und Mittelmeer. Völlig im Flow-Zustand und von den Flamingos träumend beschliesse ich, möglichst lange ohne Zwischenstopp voranzukommen. Den Supermarkt 70 km vor dem Ziel (und 150 km nach dem Start) lasse ich links liegen. Bestimmt kommt in der nächsten Stunde ein weiterer Supermarkt, denke ich. Mein Flow-Zustand hält auch bis zur nächsten und letzten grösseren Ortschaft vor dem Ziel an. Da wieder kein Supermarkt an der Route liegt und ich nicht anhalten möchte, fahre ich frohen Mutes gleich durch, um die letzten 40 km in Angriff zu nehmen. Doch kaum habe ich die Ortschaft verlassen, machen sich die Strapazen der Etappe bemerkbar. Schon über 6 Stunden mit 240 Watt im Schnitt unterwegs, habe ich doch etwas zu wenig gegessen und getrunken. Die letzten 30 Kilometer ziehen sich immer mehr in die Länge und werden zu einer Herausforderung. Immerhin schaffe ich es noch knapp, die 240 Watt bis in die Ortschaft zu halten und komme auf einen Schnitt von über 30 km/h für 7 Stunden Fahrzeit. Dies war der höchste Schnitt (Watt und km/h) der Tour, um mit dem Velo und Fotogepäck von zuhause aus ans Mittelmeer zu fahren und somit “CO2-neutral” zu Fotografieren (von den zusätzlich benötigten Kalorien abgesehen). Total erschöpft muss ich enttäuscht feststellen, dass kein einziges halbwegs vernünftiges Restaurant geöffnet hat, weshalb ich den nächsten Supermarkt aufsuche und mich durch das Sandwich-Sortiment probiere. Geschlagene 30 Minuten verbringe ich vor dem Supermarkt mit Essen, bis ich wieder bereit bin für die gemütliche Weiterfahrt. Nun heisst es vom Trainings-Modus in den Safari-Modus umzuschalten. Es dauert nicht all zu lange, bis ich meine Motive höre und finde. Während sich die Sonne langsam senkt, ziehe ich meine verschwitzen Velokleider aus und schlüpfe in die Tarnkleider. Langsam versuche ich mich etwas an die Flamingos anzuschleichen und eine tiefe Position einzunehmen. Doch auf einmal schrecke ich auf. Krampfhaft ziehen sich die Oberschenkelmuskeln zu und die Zehen beinahe auch noch. Die Flamingos haben mich natürlich längst bemerkt und halten trotz meines offensichtlich geschwächten Zustands nun einen gehörigen Sicherheitsabstand ein. Ihr Geschnatter klingt beinahe so, als ob sie mich ob meiner Unfähigkeit auslachen würden. So schaue ich müde der Sonne zu, wie sie langsam aber stetig dem Horizont entgegen sinkt. Bis zum Sonnenuntergang habe ich noch praktisch keine Fotos auf der Speicherkarte – da hätte ich auch langsamer fahren können, ohne etwas zu verpassen. Kurz vor dem Eindunkeln landet noch ein Seeregenpfeifer in meiner Nähe und ermöglicht immerhin ein paar wenige Aufnahmen.
Früh morgens versuche ich mich nochmals an der gleichen Stelle und lege mich auf die Lauer: Ein neuer Tag bringt hoffentlich neue Chancen. Ohne Krampf kann ich viel entspannter warten und vor allem scheinen mich die Flamingos nicht zu bemerken. Mit ein paar Stunden Verspätung komme ich zu den ersten Flamingobildern der Tour. Wer erkennt den zweiten Flamingo Kopf auf dem Bild?
Auch wenn ich die Zeit in der Camargue primär den Flamingos widmen wollte, zieren sie sich in den nächsten Tagen doch etwas. Meist fehlt nicht viel, doch so richtig klappen will es nicht. Dafür setzen sich andere Vogelwarten in Szene, wie dieser Stelzenläufer mit den Rosaflamingos im Hintergrund.
Für die meisten Jungvögel bin ich anfangs August etwas zu spät dran bzw. die Jungen sind schon beinahe gleich gross wie ihre Eltern, so auch bei den Stelzenläufern. Im Abendlicht versuche ich den Lichtsaum um das Gefieder einzufangen. Bei den quirligen Gesellen alles andere als ein leichtes Unterfangen, da sie innerhalb von Sekunden schon wieder aus dem schmalen Bereich mit den Reflexionen im Gegenlicht laufen. Zudem halten sie sich lieber im seichten Wasser als auf der Schlickfläche auf.
Zuerst habe ich mich schon gefreut, dass ich bei ausbleibenden Flamingos immer wieder die Stelzenläufer-Familie fotografieren könnte. Jedoch habe ich die Flugkünste der Jungen unterschätzt. Am nächsten Tag halten sie sich bereits wieder an einer anderen und weniger zugänglichen Stelle auf.
Da ist auf die Seidenreiher schon mehr Verlass. Einer befindet sich meist irgendwo in der Nähe. So beschäftige ich mich mit den Reihern, welche noch vor 100 Jahren in Frankreich ausgerottet waren aufgrund ihrer beliebten Federn. Unterdessen sind sie, dank der Unterschutzstellung, wieder weit verbreitet.
Bei klarer Sicht ist von der Camargue aus der Gigant der Provence – der Mont Ventoux – ersichtlich. Unter Velofans dürfte dies einer der bekanntesten, wenn nicht der bekannteste Berg sein. Daher ist es wohl keine Überraschung, dass ich von Vogelfotos mit dem Mont Ventoux im Hintergrund geträumt habe. Tage zuvor hatte Jonas Vingegaard am Mont Ventoux versucht, Tadej Pogacar in Bedrängnis um die Führung bei der Tour de France zu bringen. Bei mir ging es in diesen Tagen jedoch nicht um das gelbe Trikot, sondern um möglichst spektakuläre Lichtsituationen und Fotos. Im Schlamm liegend warte ich, bis sich endlich ein Seidenreiher vor den schemenhaften Umriss des Mont Ventoux bewegen würde. Allerdings klappt dies nur bedingt, bzw. ist der Mont Ventoux nur mit etwas Fantasie als solcher zu erkennen.
Dafür steht abends ein Seidenreiher genau vor der untergehenden Sonne.
Wolken haben sich während der ganzen Tour eher rar gemacht, sodass ich morgens vor und abends nach Sonnenuntergang jeweils prächtige Rosafarben am Himmel bestaunen kann. Die Stimmung mit den hunderten von Vögeln in der Lagune, den Rufen der Flamingos, welche immer wieder vom Krächzen der überfliegenden Seeschwalben unterbrochen werden, und den angenehmen Temperaturen hat etwas Magisches.
Nach Sonnenuntergang werden auch die Nachtreiher – ihrem Namen alle Ehre machend – aktiv. Verstecken sie sich tagsüber meist irgendwo in der dichten Vegetation, trauen sie sich nun in der Lagune zu jagen. Die Frisur sitzt auf jeden Fall schon einmal für den Ausgang.
Bald ist es jedoch so dunkel, dass der Autofokus überfordert ist und ich die Ausrüstung einpacke. Langsam entferne ich mich von der Lagune und versuche noch möglichst lange die Stimmung zu geniessen, bevor es Nacht wird.
Im Gegensatz zum Abend wird morgens das Licht ab Sonnenaufgang eigentlich nur schlechter. Dafür ist mehr Zeit vorhanden, etwas mit der Kamera zu experimentieren. Auf dem Rückweg versuche ich noch den Graureiher mit einer längeren Belichtungszeit in Szene zu setzen. Schon bald einmal drängt mich mein knurrender Magen in Richtung Frühstück und ich beende das Experiment beim Graureiher.
Während sich die Flamingos morgens manchmal etwas zieren, zeigen sich unerwartet einige Limikolen vor mir, wie dieser Säbelschnäbler.
Ausgerechnet als die Flamingos endlich auf Fotodistanz herangekommen sind, läuft ein frecher Grünschenkel vorne durch und drängt sich in den Vordergrund.
Doch nun zu den Flamingos, welche ich nach dem kurzen Intermezzo mit dem Grünschenkel auch als Protagonisten fotografiert habe. Anders als andere Schreitvögel wie die Reiher können Flamingos nicht sofort abheben, sondern müssen zuerst Anlauf nehmen, um abzufliegen. Dieser Moment ist für mich jeweils eine willkommene Gelegenheit, meine Kameraführung mittels Mitzieher zu testen. Mir scheint jedoch, dass die Flamingos etwas mehr Stabi-Übungen (bzw. Krafttraining) absolvieren sollten. Mit dem langen Hals wackelt der Kopf meistens wie wild. Dies gibt Abzug bei der Stilnote und ist garantiert nicht besonders effizient. Da kann ich mir noch so Mühe geben, die Kamera so gerade wie möglich mitzuziehen, wenn das Motiv dermassen wild wackelt. Immerhin scheint ein Flamingo besonders athletisch und stilsicher unterwegs zu sein. Ob es Zufall ist, dass er die Spitzenposition inne hat? 😉
Je nach Situation verzichte ich – meistens bewusst und manchmal auch aus Versehen beim Betätigen der falschen Kamerataste – auf einen Mitzieher und fotografiere den Abflug eines Flamingos ganz klassisch.
Während meines Aufenthalts in der Camargue windet es meistens, was zwar die lästigen Stechmücken in Schach hält, dafür aber auch Wellen verursacht, welche die Spiegelungen auswischen. Dafür gibt es im Gegenlicht spannende Muster.
Nachdem ich vergeblich auf der anderen Seite des Gewässers auf Motive im Rückenlicht gewartet habe, entdecke ich einen Flamingo in Ufernähe auf der anderen Seite. Da die Sonne schon unmittelbar vor dem Untergehen ist, habe ich nicht mehr damit gerechnet, dass ich es noch rechtzeitig auf die andere Seite zum Flamingo schaffen würde. Als sich abzeichnet, dass ich doch noch eine Chance haben würde, laufe ich immer schneller, bis ich schlussendlich zu rennen beginne. So reicht es mir gerade noch rechtzeitig, mich gegenüber der untergehenden Sonne und den Flamingos zu platzieren und hinzulegen.
Die Rosafarbe des Gefieders stammt von winzigen Krebsen, welche Beta-Karotinoide (Farbstoffe) beinhalten und auf dem Speiseplan der Flamingos stehen. Ansonsten wären die schönen Rosaflamingos grau/weiss und nur halb so interessant zum Fotografieren. Mein Versuch mehr Karottensalat zu essen, um wie ein Flamingo auszusehen und mich daher besser anschleichen zu können, ist aber kläglich gescheitert (auch wenn der Salat lecker war).
Die Flamingos sind ausgesprochen gesellige Vögel und nur selten alleine anzutreffen. Meistens sind sie in grösseren Gruppen unterwegs. Es ist jedoch gar nicht so einfach, ein Foto der Gruppe zu machen, ohne dass ein Individuum angeschnitten ist. Für ein Gruppenfoto, auf dem alle schön in eine Richtung schauen, muss ich nochmals in die Camargue.
Bei dermassen vielen Flamingos ist es auch sehr schwer, unentdeckt zu bleiben. Genügend Geduld und etwas Glück sind die Voraussetzung, dass sich Flamingos einem annähern.
Meine Geduld ist – insbesondere wenn der Sonnenaufgang bzw. -untergang näher rückt – jedoch meist relativ klein. Sind die Flamingos an einem anderen Ort, ist die Versuchung jeweils gross, dem Glück etwas auf die Sprünge zu helfen und sich zu verschieben. Allerdings ist dies meistens ein erfolgloses Unterfangen, zumal ich mich mit meiner Körpergrösse schlecht verstecken kann. Daher heisst es, geduldig an Ort und Stelle ausharren und der Versuchung zu widerstehen. Manchmal – leider weniger oft, wie ich es mir wünschen würde – kommen die Flamingos dann gerade noch rechtzeitig von alleine in Fotodistanz. Für solche Momente zahlen sich jedoch auch die vielen Versuche ohne Wunschbild aus und der Puls steigt trotz Liegeposition rasant an, wenn es soweit ist.
Der Flamingo bleibt nicht allein. Die Präsenz eines Flamingos scheint den anderen zu signalisieren, dass es hier sicher ist. Immer mehr Flamingos laufen in meine Richtung. So kann ich mich bald nicht entscheiden, welche Flamingos ich fotografieren soll – ein Luxusproblem, welches ich gerne öfters hätte.
Was für ein Morgen! Unterdessen bin ich komplett durchnässt und mit Schlamm bedeckt. Eigentlich wollte ich direkt nach dem Frühstück vom Mittelmeer losfahren, um wenn möglich am nächsten Abend in Zürich anzukommen. Nun muss ich allerdings zuerst schauen, dass ich und die Kleider so halbwegs sauber bzw. trocken werden…
Um viertel nach 10 kann ich dann frisch gestärkt vom Mittelmeer starten, um die knapp 660 km lange Fahrt nach Zürich in Angriff zu nehmen, mit vielen Fotos und schönen Erinnerungen im Gepäck.
Ich merke bald einmal, dass sich die Beine nicht mehr so frisch fühlen, wie bei der ersten Etappe Richtung Südfrankreich. Schon vor der 200 km Marke bin ich gezeichnet von den Strapazen: Dicke Salzränder sind auf dem Trikot und den Hosen auszumachen. Irgendwie bin ich mit etwas zu hoher Intensität gestartet, was sich nun langsam rächt. Um neun Uhr Abends trinke ich ein Cola in der Hoffnung, dass das darin enthaltene Koffein für zusätzlichen Schub sorgt. Geöffnete Restaurants oder Take-aways sind auf dem Land in Frankreich eine Rarität, gerne hätte ich noch etwas Salziges gegessen und ein kühles Getränk genossen. Beim Eindunkeln gerate ich – trotz Cola – in ein mentales Tief. Während der eine Teil des Kopfs weiter nach Norden fahren will, hält der andere nach Schlafmöglichkeiten Ausschau. Für einen Moment habe ich das Gefühl, es nie bis Freitagabend nach Zürich zu schaffen. Irgendwann setze ich mir das Ziel, noch bis zur Hälfte – also 330 km – weiterzufahren. Wenn ich mich nur kurz schlafen lege, könnte es doch noch knapp reichen – vorausgesetzt, dass ich mich in der kurzen Zeit ausreichend erholen kann. Es ist bereits weit nach Mitternacht, bis ich die angestrebten 330 km erreicht habe. Zum Glück finde ich rasch ein lauschiges Schlafplätzchen. Um möglichst wenig Zeit zu verlieren, schlüpfe ich mitsamt den Velokleider in den Innenschlafsack und verzehre die letzten beiden Sandwiches, welche ich noch übrig habe.
Nach nur drei Stunden Schlaf klingelt bereits wieder der Wecker. Kein Wunder, fühlen sich die Beine beim Start – ihr werdet es wohl geahnt haben – alles andere als frisch an. Doch langsam komme ich ins Rollen und mit der anbrechenden Dämmerung sehe ich auch endlich wieder mehr von der Landschaft. Pünktlich zum Morgenverkehr treffe ich in Genf ein. Die Strecke zwischen Genf und Zürich zieht sich in die Länge, mit dem Velo wird die Schweiz auf einmal gross. Trotzdem schaffe ich es tatsächlich noch deutlich vor Sonnenuntergang in Zürich anzukommen. Irgendwie kann ich es selbst nicht ganz glauben, dass ich tags zuvor morgens noch am Mittelmeer Flamingos fotografiert habe und nun mit dem ganzen Gepäck von etwa 30 kg mit dem Velo nach Zürich gefahren bin. Immer wieder erstaunlich, zu was man mit genügend Wille – oder ist es bereits ein etwas sturer Kopf – fähig ist.
So hatte ich noch zwei Tage Zeit, um die Ausrüstung zu putzen und die genialen Erlebnisse setzen zu lassen, bevor der Schlussspurt der Doktorarbeit bevorstand (welche ich unterdessen eingereicht habe).
Was hat mich motiviert die Reise mit dem Velo zu absolvieren mitsamt der Fotoausrüstung? Als Naturfotograf möchte ich möglichst nachhaltig unterwegs sein, auch wenn auf den Fotos nicht ersichtlich ist, ob ich mit dem Auto oder Flugzeug unterwegs gewesen bin oder aus eigener Muskelkraft mit dem Velo. Das Velofahren ist jedoch nicht nur ökologischer, sondern auch eine wunderbare Art, langsam zu reisen und die (Kultur-) Landschaft mit allen Sinnen zu erleben. Intensive sowie unvergessliche Erlebnisse sind garantiert. Meine Lust auf mehr ist auf jeden Fall geweckt, die Planungen für eine nächste Bikepacking-Tour mit der Kameraausrüstung laufen bereits…
4 Comments
Lieber Flurin
Tolle Leistung und schöne Bilder aus der Camargue. Spannender Ansatz, das mit Bike und Kamera-Ausrüstung – und Gratulation zur pünktlichen Abgabe deiner Doktorarbeit. Weiterhin viel Erfolg und Freude beim Fotografieren.
Eva
Super geschrieben und tolle Bilder! Gratulation zu dieser tollen Reise!
Ciao Flurin
Ich ziehe den (nicht vorhandenen) und verbeuge mich vor deiner fotografischen und Willens-Leistung! Dein Ansatz gefällt mir sehr und ich hoffe, er findet insbesondere bei der jungen Generation viele NachahmerInnen.
Und schreiben kannst du auch. Drum hoffe ich, dass wir noch vielfach von deinren Talenten profitieren können: Spannende Stories & emotionale Bilder – bitte mehr davon …
Liebe Grüsse aus der Zentralschweiz
Hermann
Hoi Hermann,
Vielen Dank für deinen Kommentar! Es würde mich auch freuen, wenn der Ansatz NachahmerInnen findet 😉
Liebe Grüsse,
Flurin