Nach einem bereits langen Tag, mit vielen Stunden vor dem Laptop, mache ich mich mit einem Kollegen auf den Weg durch die Nacht in den Süd-Osten Islands. Mit fortgeschrittener Stunde begegnen uns immer weniger Autos auf der Strasse, nur vereinzelt heizen Lastwagen mit hohem Tempo über die Ringstrasse. Immer wieder schauen wir gespannt aus dem Fenster auf der Suche nach einem leuchtenden Himmel. Anstatt der erhofften Polarlichter erhellen jedoch nur die zahlreichen Gewächshäuser den arktischen Nachthimmel während der über vierstündigen Fahrt. Kurz nach 1 Uhr morgens tanzen jedoch tatsächlich auf einmal grüne Lichter am Himmel! Unsere Freude trübt sich etwas, als am ersten geplanten Stopp ein so starker Wind fegt, dass nicht an Langzeitbelichtungen zu denken ist. In der nächsten Bucht haben wir mehr Glück, und es ist zu unserer Überraschung fast windstill. Wir können gerade noch einige Bilder der Polarlichter einfangen, bevor die Show leider viel zu schnell wieder vorbei ist: Die Stimmung mit den sich rhythmisch bewegenden Polarlichtern, deren Licht sich in der gefrorenen Gletscherlagune und den Ausläufern des grössten Gletschers von Europa spiegeln, bleibt unvergesslich.
Nun, in der Dunkelheit der Nacht – es ist bereits nach zwei Uhr in der Früh, macht sich die Müdigkeit bemerkbar. Zum Glück haben wir bereits etwas Übung im Einrichten der Matten und Schlafsäcke im Auto, sodass wir bald in den wärmenden Schlafsack kriechen können. Dies gleicht jeweils einer kleinen Beweglichkeitsübung im nicht übermässig grossen Subaru 😉
Der Blick am Morgen aus dem Fenster verrät, dass wir leider den Wecker tendenziell zu spät gestellt haben: Bereits ist der Himmel leicht rot verfärbt. So schnell wie nur möglich richten wir das Auto wieder fahrbereit her und peilen den nächsten Foto-Stopp an. Vom Parkplatz führt ein stark vereister Fussweg hinüber zum Strand. Während der Himmel zu brennen scheint, versuche ich mit der Fotoausrüstung über das Eis zu rennen, in der Hoffnung, dass sich die kleinen Metallstücke der eben erstandenen Spikes genügend fest ins Eis beissen. Am Strand angekommen reicht es gerade noch, in die Stiefel zu steigen und die NiSi-Filter zu montieren, bevor auch dieses Spektakel am Himmel wieder vorbei ist. Fotografenhektik, die zugegebenermassen ein wenig ein Widerspruch zur grandiosen Morgenstimmung ist, welche zum Innehalten einladen würde.
Nach diesem etwas hektischen Start in den Tag geht es gemächlicher weiter, auf der Suche nach den Rentieren. Nicht ein einziger Baum verdeckt uns die Sicht in den weiten Ebenen, sodass wir bald einmal eine Herde finden. Dafür stellt sich die Frage, wie sollen wir uns bloss an die Rentiere heranpirschen?
Wenigstens einmal kommen wir einem Teil näher – zumindest einem abgeworfen Geweih, welches wir entdecken. Es dauert eine ganze Stunde, bis wir das Geweih mit Steinen aus dem Eis frei “gepickelt” haben. Vielleicht hilft uns das Geweih ja, näher an die Rentiere heranzukommen? Im Osten Islands leben zwischen sechs- und siebentausend Rentiere, wovon etwa ein Siebtel jedes Jahr erlegt wird und z.B. als Weihnachtsbraten endet. Zudem werden sie in Island nicht domestiziert im Gegensatz zu den meisten Herden in Lappland – sie sind also wild. Daher ist es kein Wunder, dass sich die Annäherungsversuche eher schwierig gestalten und die Rentiere versuchen, einen grosszügigen Sicherheitsabstand zwischen sich und uns zu wahren.
Die umgebende imposante Landschaft lässt dieses Manko (teilweise) in den Hintergrund treten, hier im Bild mit einem Ausläufer des grössten Gletschers von Europa. Bereits gegen Mittag meine ich etwas weniger Grip beim Überqueren von Eisflächen zu haben. Wenig später bestätigt sich meine Vermutung: Die Spikes haben bereits nach wenigen Stunden ihre “Zähne” verloren. Der Super-Deal im Supermarkt entpuppt sich als nicht ganz so super.
Der nächste Tag beginnt mit einem kräftigen Schneesturm und Sichtweiten von wenigen Metern auf der Strasse. Anstatt nach Rentieren halte ich nun angestrengt Ausschau nach dem nächsten reflektierenden Pfosten am Strassenrand.
Zum Glück beruhigt sich das Wetter kurzzeitig und es erlaubt uns, erneut nach Rentieren Ausschau zu halten. Die Bergflanken sind zum Teil fast schneefrei aufgrund des kräftigen Windes.
Schon bald frischt der Wind wieder auf und dicke Schneeflocken fegen uns um die Ohren. Immerhin können wir uns so im Pulverschnee etwas näher an ein Rentier heran robben.
Im 18. Jahrhundert wurden drei Rentierherden von Norwegen in Island ausgesetzt – je eine im Südwesten, Norden und Osten der Insel. Jedoch überlebten die Rentiere nur im Osten bis heute. Vermutlich stimmten das Nahrungsangebot und das Klima in den anderen Orten nicht mit den Bedürfnissen der Rentiere überein. Gefriert z.B. der Regen oder Schnee, können sie das darunterliegende Futter nicht mehr mit ihren Hufen frei scharren und verhungern. Ansonsten sind sie bestens an die Kälte angepasst und überstehen Temperaturen von unter -60°C. Mitverantwortlich dafür ist ihre spezielle Nase, in welcher der Wärmeverlust beim Atmen reduziert wird: Die klirrend kalte Aussenluft wird rasch auf Körpertemperatur aufgewärmt, während die auszuatmende Luft in einer Art Wärmetauscher auf 15°C herunter gekühlt wird.
Währenddessen werden die Verhältnisse im Südosten Islands immer schwieriger: Der Wind frischt weiter auf und der Schneefall wird stärker. Der Nassschnee scheint förmlich auf der Kleidung und den Fellen der Rentiere zu kleben. Der Schneesturm bedeckt auch die Linse in Kürze mit einer Schneeschicht, sodass ich, trotz eifrigen Reinigungsversuchen, bald nicht mehr fokussieren kann.
Am nächsten Morgen ist nicht mehr viel vom Schneesturm zu sehen. Über Nacht ist die Temperatur leicht angestiegen, sodass der Niederschlag nun als Regen fällt und sich die Winterwunderlandschaft zu einer eher tristen Angelegenheit verwandelt hat. An windexponierten Stellen kommt die Vegetation zum Vorschein. Etwas durchnässt nutzen diese zwei Rentiere die schneefreien Stellen.
Nach relativ kurzer Zeit ist auch unsere Ausrüstung wieder durchnässt und alle Mikrofasertücher zum Reinigen und Trocknen sind verbraucht. Beeindruckt von der Widerstandsfähigkeit der Rentiere machen wir uns auf die Rückfahrt Richtung Reykjavík. Bei diesen Witterungsbedinungen wollte ich nicht mit den Rentieren tauschen und freute mich darauf, die Fotos in der warmen Stube zu sichten und somit die Erlebnisse nochmals revue passieren zu lassen.
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